Nachricht | Deutsche / Europäische Geschichte - GK Geschichte Bollmann: Monte Verità. 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt

Buch beleuchtet auch Probleme und Schattenseiten

Information

Ab 1900 existierte an einem Hang oberhalb des Lago Maggiore in der italienischen Schweiz bei Ascona ein besonderer Ort. Der Monte Verità wird für zehn, oder je nach Definition, bis zu 20 oder gar mehr Jahre zu einem realen und vor allem zu einem Projektionsort der europäischen Intelligenz: Dadaisten, Schriftsteller, AnarchistInnen, Reiche und Bohèmes, Barfußjünger und andere (selbsternannte) AussteigerInnen, aber auch bekannte KünstlerInnen halte sich dort zeitweise oder länger auf.

Angetrieben von dem Wunsch sein eigenes Leben zu verändern, hatten 1900 sechs Aussteiger vom Erbe eines ihrer Mitglieder die Fläche gekauft und in Betrieb genommen. Im Grunde boten sie eine Art Kurangebot unter den Prämissen von Licht, Sonne, Luft, Diäten und Vegetarismus an. Der gesinnungsethische Überschuss führt schnell zu gruppendynamischen Prozessen, es gibt interne Verwerfungen und Streit, Verletzungen und Trennungen bleiben nicht aus. Der Berg kommerzialisiert sich, und nach dem Weggang der letzten Gründerpersonen 1920 kauft dann 1925 der Millionär und Kunstsammler Eduard von der Heydt das Gelände, baut ein Hotel und betreibt eine, so Bollmann, wertsteigernde, strategische Immobilienentwicklung. Seit er 1964 verstorben ist, gehört das Gelände dem Kanton Tessin. Da viele Menschen, die geschrieben haben, wie etwa Hermann Hesse, Marianne Werefkin oder Erich Mühsamund andere, auf dem Monte Verità lebten oder ihre Sommerfrische verbrachten, gibt es relativ viele Quellen über das Geschehen.

Der Züricher Arzt und Linksozialist Fritz Brupbacher (1874-1945) hingegen nennt den Monte Verità die «Hauptstadt der psychopathischen Internationale», Erich Mühsam verspottete ihn 1905 wegen dem in seinen Augen unpolitischen und lustfeindlichen Vegetarismus als «Salatorium» (Volltext des Spottverses). Bollmann dekonstruiert eindrucksvoll den Mythos vom Monte Verità als reale Utopie. Er schildert, und das ist neu, auch die manischen bis psychotischen Züge vieler Beteiligter, und kritisiert die frauenverachtenden «Strukturen» und Denkweisen sehr vieler Männer.

Er stellt viele handelnde Personen und Gäste (wie etwa Otto Gross) genauer vor, und bettet die Entwicklung am «Zauberberg der Alternativkultur» gut in gesellschaftliche Zusammenhänge ein. Er fragt z.B. was der Fleischkonsum mit dem Patriarchat und die seinerzeit beginnende Industrialisierung der Agrarwirtschaft mit dem damaligen Wunsch vieler nach einem «einfacheren», «natürlicheren» Leben zu tun hat? In seinem im Stile einer Doku-Fiction angelegten Buch greift er Fragen nach dem Verhältnis von Avantgarde und Esoterik (enger als oftmals gedacht) und zur Spannung zwischen «Flucht» und «Ankommen» auf. Er widmet sich dem Widerspruch zwischen Individualität und Gemeinschaftswunsch, und nicht zuletzt den Mühen Alltag und Utopie zu vereinbaren. Fragen einer solidarischen Ökonomie und von Mikro- und Körperpolitik also, die auch heute noch aktuell sind und damals in einem Laboratorium für neue Lebensstile ausprobiert und weithin diskutiert wurden.

Stefan Bollmann: Monte Verità. 1900. Der Traum vom alternativen Leben beginnt; Deutsche Verlagsanstalt, München 2017, geb., 316 Seiten, 20 EUR

Weitere Literatur

Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955, München 2005

Wolfgang J. Mommsen: Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Kultur und Politik im deutschen Kaiserreich 1870 bis 1918, Frankfurt am Main/Berlin 1994