Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Deutsche / Europäische Geschichte - Westeuropa - 8. Mai 1945 Frankreich in der Zeit der Befreiung

Roger Martelli über die Dynamik des Befreiungskompromisses und die Rolle der Kommunistischen Partei Frankreichs nach dem Krieg

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Vortrag von Roger Martelli: Die Krise der Parteien und neue Politikformen
Roger Martelli im Januar 2018. Still von einem Vortrag über die Krise der Parteien und neue Politikformen. Institut Tribune Socialiste, via Vimeo

Zwischen Juni und Juli des Jahres 1940 begibt sich Frankreich in die Dunkelheit der Besatzung und der Kollaboration. In der Zeit von August bis Dezember des Jahres 1944 wird das französische Territorium befreit und für Frankreich beginnt eine neue Phase seiner Geschichte. In etwas mehr als einem Jahrzehnt hat das Land nacheinander die Qual der großen Krise (1929), die von der Volksfront[1] (1936) geweckte Hoffnung, die Last ihrer Niederlage, die Zeit der deutschen Besatzung und Kollaboration, die Résistance und die Freude der Befreiung erlebt.

Roger Martelli ist Historiker. Er arbeitet für Espaces Marx und die Fondation Gabriel Péri und ist Autor zahlreicher Studien über die Erneuerung der Kommunistischen Partei Frankreichs und ihre Wahlergebnisse. Er ist Ko-Direktor der Zeitschrift Regards.

Als General de Gaulle am 26. August 1944 den Champs-Elysees triumphierend durchquert, ist die sozialpolitische Landschaft von Grund auf verändert. Die Wirtschaftseliten (die von der Volksfront angeprangerten «200 Familien»[2]) und die französische Rechte waren wegen ihrer Unterstützung für den französischen Staat des Marschalls Petain,  der von 1940 bis 1944 als Staatschef dem Vichy-Regime vorstand und ihrer tatkräftigen Zusammenarbeit mit Nazideutschland diskreditiert. Wobei die Kritik an der Dritten Republik Frankreichs, die von 1870 bis 1940 bestand, auch die Vorkriegsinstitutionen nicht verschont: Nach 65 Jahren ihres Bestehens wurde diese für das Zurückweichen und das Desaster in den Jahren 1938-1940 verantwortlich gemacht. In den Darstellungen dieser Zeit werden unterschiedliche Perspektiven diskutiert: der Aufbau eines «neuen Frankreichs», aber auch die «nationale Erneuerung» und sehr oft auch die «Revolution» als massiv geforderte Perspektive.

Eine Widerstandsbewegung die politisch links geprägt ist

Zweifellos bewegte sich die Dynamik der französischen Bewegung den politischen Cursor nach links. Der Chef der nationalen Befreiungsbewegung «France Libre» bzw. des freien Frankreichs, Charles de Gaulle, kam zwar von der konservativen Rechten und ebenso jene, die die neu entstandenen offiziellen Institutionen ab dem Sommer 1944 bevölkerten. Sie waren jedoch weit von dem entfernt, was die Linke der Vorkriegszeit war. Aber in Frankreich wie in den meisten europäischen Ländern wurde die «Schattenarmee» des Widerstands gegen das Vichy-Regime und Nazideutschland nicht von traditionellen Liberalen geführt.

Die Widerstandsbewegung ist zuerst in dem antifaschistischen Kern der 30iger Jahre verwurzelt, der selbst den äußersten linken Teil der europäischen Politik strukturierte. Die brutale Konfrontation zwischen dem faschistischen Deutschland und der Sowjetunion hatte einer einfachen Idee zusätzlich Kraft gegeben: Wenn die republikanische Idee die faschistische Ideologie besiegen will, muss sie etwas von den egalitären Werten der «sozialen Republik» integrieren, wie sie von der Arbeiterbewegung gefordert wurde.

Das am 15. März 1944 vom Nationalen Widerstandsrat (CNR) verabschiedete Programm – es wurde in einer Broschüre unter dem vielversprechenden Titel «die Glücklichen Tage» veröffentlicht – ist von dieser Einstellung geprägt, die die Prinzipien der Nationalisierungen der Industrie, der sozialen Sicherheit und sogar der Interventionsbefugnisse der Arbeitenden in der Arbeitswelt in den Vordergrund stellten. Auch die ersten Wahlen nach der Befreiung im Jahr 1945 bestätigen diese Stimmung des politischen Linksrucks. So bekam die Linke im Oktober 1945 anlässlich der Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung eine breite Mehrheit: 60 Prozent der angegebenen Stimmen und die kommunistische Partei wurde die stärkste Partei Frankreichs mit etwas mehr als 26 Prozent der Stimmen. Frankreich gehörte damit zu den wenigen Ländern, in denen die Linke von einer Nachfolgepartei der bolschewistischen Tradition des Anfangs des Jahrhunderts eine Führungsrolle übernahm.

Die Politik der Kommunistischen Partei Frankreichs (FKP) war jedoch schon sehr früh Gegenstand von heftigsten Kontroversen. Es wurde oft behauptet, dass die Partei auf hinterhältige Weise die Kontrolle über die gemeinsamen Organisationen des Widerstands übernehmen wollte. Sie wurde beschuldigt, die Bedingungen für eine Machtergreifung zu schaffen, ähnlich wie in Osteuropa. Nach Ansicht einiger Historiker hätte die FKP in Frankreich gerne eine Situation der «Doppelherrschaft» errichten wollen und habe deshalb die Institutionen des Widerstands (Arbeitermilizen und Befreiungskomitees) und die formell Befugten, d.h. die von General De Gaulle bestimmten Gesandten gegeneinander ausgespielt.

Das Gewicht der Kommunistischen Partei Frankreichs

Die seit einigen Jahren gesammelten Forschungsergebnisse bestätigen dieses Bild nicht. Seit dem Frühjahr 1941 war die kommunistische Bewegung in ihrer Gesamtheit der Ansicht, dass die Priorität der Zeit nicht mehr die soziale Revolution war – wie es noch im Herbst 1939 formuliert wurde – sondern der nationale Kampf gegen faschistischen Besatzer. Das Anliegen der Kommunisten bestand darin, den bewaffneten nationalen Aufstand gegen diese vorzubereiten und eben nicht für eine unverzügliche Revolution zu mobilisieren. Wie alle politischen Kräfte achtete auch die FKP darauf, ihren Platz im französischen Widerstand – der Résistance – zu bewahren, deren Verdienst darin bestand, trotz ideologischer Differenzen vereint zu bleiben. Die Sorge, nicht an den Rand gedrängt zu werden, war Teil einer Strategie, die keinen anderes unmittelbares Ziel hatte, als die Niederschlagung der Achsenmächte.

Ohne Frage verfügten die französischen Kommunisten über Ressourcen, die sie zur größten und strukturiertesten Kraft unter allen Organisationen des Widerstands machte. Seit dem Ende des Sommers 1939 verboten, hatte sie sich früher als die anderen und geprägt durch die strenge Kultur der bolschewistischen Avant-Garde (aus der Zeit vor 1917) an den politischen Untergrund gewöhnt. Viele ihrer Aktivisten hatten die harte Erfahrung der internationalen Brigaden in Spanien erlebt, verfügten über Erfahrungen militärischer Führungskräfte, auf die andere Parteien nicht zurückgreifen konnten. Darüber hinaus besaßen sie aus der Vorkriegszeit über einen Erfahrungsschatz politischer Aktivitäten, der mit Massenaktionen in Gewerkschaften und sozialen, sportlichen, oder kulturellen Verbänden verbunden war. Infolgedessen blieben die Kommunisten angesichts des Zusammenbruchs der politischen Demokratie im Juni/Juli 1940 nicht macht- und handlungslos.

Zweifellos muss ergänzt werden, dass die Kommunisten ihren Platz gestärkt haben, der ihnen größtenteils von anderen Akteuren überlassen wurde. Nachdem 1943 in Algier die Institutionen des «France Libre» (des freien Frankreichs) eingerichtet wurden, prägten diese vor allem interne Auseinandersetzungen, in denen ein Großteil der Widerstandskräfte hauptsächlich damit beschäftigt war, die Position und den Kurs der eigenen Organisation zu verteidigen, statt diese dem gemeinsamen Ziel der Gesamtbewegung unterzuordnen. Im Unterschied dazu waren die Kommunisten der Ansicht, dass das Wichtigste die Vorbereitung auf den nationalen Aufstand sei und eben nicht die Definition Frankreichs für den Tag danach. Sie bemühten sich darum, die gemeinsamen Organisationen des «Innenwiderstands» also innerhalb Frankreichs unter den Bedingungen der Besatzung zu befördern und weniger darum, ihren Platz in einem gaullistischen System außerhalb Frankreichs zu finden, in dem sie an den Rand gedrückt wurden.

Die Verteilung der Kräfte und der Platz der Kommunisten innerhalb der Strukturen des Widerstands war einer dreifachen Tatsache geschuldet: des konkreten Platzes, den der kommunistische Widerstand in der Résistance gegen die Besatzer einnahm, des vorrangigen Wunsches der KP, den nationalen Volksaufstand vorzubereiten und der relativen Verachtung der gaullistischen und anderer Widerstandskräfte für die Entwicklung einheitlicher Strukturen des Widerstands.

Ein Wohlfahrtsstaat auf die französische Art

In jedem Fall ist das Frankreich der zweiten Nachkriegszeit stark von dieser Wende nach links des französischen politischen Raumes geprägt. In den Jahren nach der Befreiung triumphiert in Frankreich wie in ganz Europa der «Wohlfahrtsstaat», der fast überall die sozialen Mängel des liberalen Kapitalismus dämpft. Auf seine Art und Weise hat sich Frankreich den Standards dieser beispiellosen Verbindung von «Keynesianismus» und «fordistischem Kompromiss» erschlossen. Der Keynesianismus hatte hier eine radikalere Form angenommen und der soziale Kompromiss spiegelte das massive Gewicht der Strömung revolutionären Ursprungs in der französischen Linken und Arbeiterbewegung.

Zwischen 1944 und 1946 wurden eine Reihe von Sozialreformen vervollständigt, die auf eine im Juni 1936 begonnene Politik der Volksfront zurückgehen. Nicht alle Maßnahmen bezogen sich ausdrücklich auf das Programm des Nationalen Widerstands (CNR), aber sie sind alle Teil dessen, was zu einer Gemeinwohlpolitik wurde und so sogar die Grenzen von rechts und links für einen kurzen Moment durchbrach. Einige dieser Maßnahmen erweiterten die Bereiche des öffentlichen Dienstes und der geforderten Nationalisierung als Form der Verstaatlichung wie z.B. bei Energie, der Banque de France, Einlagenbanken, Versicherungen, Luft- und Seeverkehr. Andere Maßen, die noch grundlegender waren, festigten schließlich die Grundlagen eines bisher begrenzten Sozialrechts: Rückkehr zu den 40 Stunden pro Woche, Status der Pacht- und Halbpachtswirtschaft[3], Einrichtung  der Sozialversicherung und des Rentensystems nach dem Verteilungsprinzip,  Einrichtung von Betriebsräten, die grundsätzlich das Recht haben, in die Geschäftsführung einzugreifen und letztlich den Beamtenstatus.

Das Frankreich der Vorkriegszeit war von einer anhaltenden Kombination aus vorwiegend Finanzkapitalismus in der französischen Rententradition – und einem Sozialstaat geprägt, der schwächer blieb als in anderen Ländern. Die Befreiung vom Faschismus und der deutschen Besatzung brachte Frankreich in eine neue Phase: kapitalistisch, aber mit weniger Ungleichheit, mehr Umverteilung und war so letztendlich sozialer, als alle vorherigen Phasen. Die Arbeitswelt blieb zwar nachgeordnet, aber auch dort wurden die Prinzipien von weniger Ungleichheit und mehr Umverteilung in den individuellen und kollektiven Statuten und Rechten anerkannt.

Ende einer Ära?

Der Eintritt in den Kalten Krieg im Frühjahr 1947 dämpfte zwar die reformorientierte Logik der ersten Jahre erheblich. Der Konsens des Widerstands machte Platz für die Rückkehr der alten Feindseligkeiten. Die durch die Besatzungszeit diskreditierte politische Rechte baute sich schrittweise wieder auf. Die Linke verlor mit der Entstehung der Spaltung zwischen Ost und West, eine Spaltung die den Links-Rechts-Gegensatz verwischte. Im Mai 1947 wurde die FKP aus der Regierung ausgeschlossen. Sie schloss sich dann im Herbst der vom sowjetischen KP festgelegten Linie der «zwei Lager» an. Die FKP ist zwar viele Jahre mächtig und kämpferisch, bleibt aber isoliert. Bis in die frühen 60er Jahre war sie nicht mehr in der Lage, das institutionelle politische Feld zu beeinflussen.

Trotz allem haben die Wechselfälle des politischen Lebens in Frankreich das Zwischenspiel der Befreiung nicht ganz beendet. Bis in die späten 60er Jahre hat die französische Arbeiterbewegung weiterhin Maßnahmen durchgesetzt, die für die Arbeitswelt und für die am stärksten gefährdeten, sozialen Milieus wichtig sind. Erst mit der Krise, die in den 70er Jahren in Gang kam, und vor allem mit der ultraliberalen Wende, die im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten Ende des Jahrzehnts begann, setzte der langanhaltende Niedergang des französischen Sozialstaats ein. Die Arbeiterbewegung ist nach anhaltenden Niederlagen auf dem Rückzug, die Gewerkschaftsbewegung ist geschwächt, der Staatssozialismus gescheitert, die Sozialisten nach rechts abgewichen und die FKP wurde politisch ausgegrenzt.

Die ersten zwei Jahrzehnte dieses Jahrhunderts haben praktisch den Abbau des Sozialsystems abgeschlossen, das der antifaschistische Widerstand geschaffen hatte durchzusetzen. Bereits 2007 erklärte ein hochrangiger Vertreter der Arbeitgebergewerkschaft MEDEF, kühl das Ziel der dominierenden Kräfte: «Heute geht es darum, aus dem Jahr 1945 herauszukommen und das Programm des Nationalen Widerstandsrates methodisch rückgängig zu machen.»

Nostalgie ist immer ein schlechter Ratgeber und die Geschichte reproduziert sich nie identisch. Heute reicht es nicht mehr aus, die Dynamik des Befreiungskompromisses von damals fortzusetzen. Wir brauchen neue Schritte in den langen Kämpfen um die menschliche Emanzipation. Um voranzukommen dürfen wir nicht zurück ...
 

[Übersetzung : Francoise Diehlmann]


[1] Die Volksfront aus Kommunisten, Sozialisten und Radikalsozialisten gewinnt am 3. Mai 1936 die Wahlen und bildet am 4. Juni 1936 unter dem Sozialist Léon Blum die erste linksgerichtete Regierung Frankreichs. Sie führt weitreichende Sozialreformen ein, um die Wirtschaftskrise zu bewältigen. Diese Regierung wurde von der Kommunistischen Partei Frankreichs unterstützt, ohne selbst Teil der Regierung zu sein. Am 12.4.1938 führt die Ernennung des Radikalsozialisten Edouard Daladier zum Zerfall der Volksfrontregierung.

[2] Zu den Sozialreformen der Volksfrontregierung zählte auch die Reform der Satzung der Banque de France. Eine wichtige Regelung des Gesetzes von 1936 betraf die Abschaffung der den «200 Familien» eingeräumtem Privilegien. Es wurde allen Aktionären, unabhängig der Anzahl ihrer Aktien nur eine Stimme gegeben.

[3] Der Status der Pächterzucht wurde per Gesetz am 13.April 1946 verabschiedet. Das bedeutet den Sieg der Kämpfe vieler Bauern gegen die landwirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse. Dieses Gesetz gewährleistet den Schutz des Landwirts, indem es die Stabilität des Pachtvertrags (bis zu achtzehn Jahre) und die Nutzungsfreiheit garantiert. Am Ende des Mietvertrags muss der Vermieter beispielsweise den Landwirt entschädigen, wenn das Produktionswerkzeug verbessert wurde, oder den Kindern des Landwirts Vorrang bei der Wiederaufnahme des Mietvertrags einräumen. Der Landwirt hat auch das Vorkaufsrecht, Eigentümer zu werden. Die Mietpreise sind ebenfalls durch Präfekturverordnung festgelegt. Der Status der Pächterzucht garantiert die Nachhaltigkeit des Familienlandwirtschaftsmodells.