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Vor 75 Jahren: Labours große Reformregierung kommt an die Macht

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Florian Weis,

«Vote Labor» - Wahlplakat 1945
Labour Wahlplakat 1945

Selten hat ein britisches Wahlergebnis die meisten Beobachter*innen, darunter auch die sowjetische Delegation unter Josef Stalin auf der Potsdamer Konferenz, so überrascht wie im Juli 1945. Das ist auf den ersten Blick verständlich, denn Winston Churchill stand auf dem Höhepunkt seines Erfolges als Kriegspremierminister. So gesehen war das Wahlergebnis von fast 48 Prozent der Stimmen (ein Zugewinn von rund 10 Prozentpunkten) für die Labour Party gegenüber knapp 40 Prozent für die Tories, welches zu einer 3/5-Mehrheit im Unterhaus führte, eine große Überraschung.

Dabei gab es eine Reihe von Indizien für den Sieg der Linken, die freilich nur wenig beachtet wurden. Seit 1942 ließ sich in Großbritannien ein deutlicher Trend nach links erkennen. Gallup-Umfragen deuteten auf einen klaren Labour-Sieg hin. Bei Nachwahlen, bei denen sich die großen Parteien keine Konkurrenz machten, stießen unabhängige Linke wie Richard Acland mit «Common Wealth» in diese Lücke und fügten konservativen Kandidat*innen einige Niederlagen zu. Auch andere Länder Europas wandten sich in einer Mischung aus Patriotismus, Antifaschismus und Kapitalismuskritik nach links. Der «Beveridge-Report», Ende 1942 im Auftrag der Regierung vorgelegt, der ein einheitliches Sozialsystem «von der Wiege bis zur Bahre» vorsah, erwies sich als Bestseller. Die Erstwähler*innen orientierten sich nach links, was sich am deutlichsten in den Streitkräften zeigte: Möglicherweise 60 Prozent der Soldaten votierten für Labour.

Und so konnte bei den Labour-Siegesfeiern am 26. Juli im Londoner East End ein Hafenarbeiter mit diesem Plakat durch die Straßen marschieren: THIS IS THE HOUR OF TRIUMPH OF THE COMMON MAN. Während der ersten Unterhaussitzung wenige Tage später sangen die fast 400 Labour-Abgeordneten ihre traditionelle Hymne: The People’s Flag is deepest red. Die Tür zur sozialistischen Utopie, zum neuen Jerusalem, schien aufgestoßen worden zu sein.

Anders als 1914 hatte sich die Labour Party 1939/40 geschlossen hinter den Kriegseintritt gegen Nazi-Deutschland gestellt. Anfangs fand Churchill bei der Labour-Führung und den Gewerkschaften mehr Rückhalt als in den Oberschichten und der konservativen Partei. Antifaschismus und britischer Patriotismus verbanden sich mit dem Anspruch, bereits im Krieg eine Abkehr von der bisherigen Wirtschafts- und Sozialpolitik einzuleiten. Populäre Publizisten wie J.B. Priestley und George Orwell waren wirkungsvolle Vertreter dieser Haltung. Staatliche Planung war der Schlüsselbegriff. Nicht noch einmal sollte es, wie nach 1918, eine Rückkehr zur alten, gescheiterten (Un)Ordnung mit Massenarbeitslosigkeit, sozialer Not und einem erneuten Weltkrieg geben. Staatliche Planung und eine Verstaatlichung etwa des im Kriege so überlebenswichtigen Kohlebergbaus ließen sich 1945 nicht mehr als Bedrohung verkaufen, nachdem die staatlichen Eingriffe in die Kriegswirtschaft sich als effektiv erwiesen hatten. Ebensowenig verfing eine klassische konservative Denunziation Labours als unpatriotisch, zu frisch waren noch die Erinnerungen an die Appeasement-Politik, das erfolgreiche Bündnis mit der UdSSR ab 1941 und die aktive Rolle Labours in der Kriegsregierung.

Clement Attlee, von 1935 bis 1955 Labours langjähriger Parteivorsitzender war eine eher spröde Führungsperson und wurde daher nicht nur im Vergleich zum charismatischen und oft auch theatralischen Winston Churchill lange unterschätzt. Mittlerweile aber kann er als der bei weitem erfolgreichste Labour-Premier und als derjenige Vorsitzende gelten, auf den sich alle Strömungen der Labour Party positiv beziehen – wer könnte das von Tony Blair oder Jeremy Corbyn behaupten?

So fortschrittlich und erfolgreich Labours Sozialreformen waren, in puncto Geschlechtergerechtigkeit bewegte sich Labour erst ab den sechziger Jahren vorwärts, und auch dann nur langsam. 1945 gehörte nur eine Frau dem Kabinett an, «Red Ellen» Wilkinson. Im Unterschied zu den anderen Parteien war der Frauenanteil in der Labour-Fraktion zwar etwas höher, lag gleichwohl aber bei kaum mehr als 5 Prozent. Diversität im Sinne von Migration und Minderheiten bedeutete 1945, vor dem Beginn der großen Einwanderung aus den Ländern des Commonwealth, eher die irischen und jüdischen Communities, die beide stark in der Labour Party vertreten waren. Nie wieder bildete ein Kabinett die Klassenzusammensetzung Großbritanniens so stark ab wie dasjenige von 1945, dem viele Arbeiter angehörten, darunter Ernest Bevin als Außenminister, der die Schule bereits mit 11 Jahren verlassen musste.

Labours radikales Reformprogramm wurde unter denkbar widrigen Umständen umgesetzt, denn das Land war im August 1945 dem finanziellen Ruin nahe. Entsprechend wurden die Rationierungen zahlreicher alltäglicher Güter noch lange beibehalten, teilweise länger als im besiegten (West)Deutschland. Auch die Löhne wurden zeitweilig eingefroren, das Wohnungsbauprogramm blieb hinter den Erwartungen und Erfordernissen zurück. Gleichwohl wurden die wesentlichen Programmziele bis 1950/51 umgesetzt: Die Einführung eines kostenlosen nationalen Gesundheitsdienstes, des NHS; die Verstaatlichung der Bahnen, des Kohlebergbaus, der Stahlindustrie, der Bank of England; Elemente einer staatlichen Wirtschaftslenkung wurden weiterentwickelt; eine annähernde Vollbeschäftigung und die (langsame) Verlängerung der Schulzeit erreicht sowie allgemein die soziale Absicherung spürbar verbessert. Großbritannien war nach 1945 ein Land mit vielen Einschränkungen im Alltagsleben, aber es war ein Land mit einer größeren gesellschaftlichen Fairness sowie sozialen Sicherheit und Gleichheit als wahrscheinlich je zuvor und selten danach.

Die Labour-Regierung, die bis zum Oktober 1951 amtierte und dann paradoxer Weise mit ihrem besten Wahlergebnis aller Zeiten (fast 49 Prozent der Stimmen, mehr als die siegreichen Tories) die Wahlen verlor, prägte die Grundlinien der britischen Politik für drei Jahrzehnte. Die Konservativen stellten große Teile der sozialstaatlichen Reformen nicht mehr grundlegend in Frage. Ähnlich prägend war später nur noch die Regierung von Margret Thatcher (1979-1990), die den sozialstaatlichen Konsens zerstörte, was durchaus als Gegenrevolution (oder Gegenreformation) zu 1945 betrachtet werden kann. Alle folgenden Regierungen, auch solche von Labour, nahmen höchstens graduelle, aber keine radikalen Änderungen gegenüber der Marktideologie Thatchers vor. Seit dem Brexit-Votum 2016, den Wahlen von 2017 und 2019 und nun der tiefen Krise in Folge des Corona-Virus zeichnen sich erneute grundlegende Veränderungen ab. Ob diese weiterhin zum schlechten ausschlagen, in Form von Nationalismus und die Demokratie aushöhlenden Populismus, oder zum Besseren in Gestalt eines Wiederaufbaus von Sozialstaat, öffentlichem Sektor und Solidarität, ist offen.