Nachricht | International / Transnational - Europa Vergessene Geschichte

Tagung zur Geschichte des Jüdischen Arbeiterbundes in Warschau

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Autor

Holger Politt,

Der Bund gehört eher zu den vergessenen Seiten in der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung. Nur noch gelegentlich wird an diese sozialdemokratische Partei erinnert, die mit der fast vollständigen Vernichtung des Judentums im östlichen Teil Europas von der politischen Bildfläche verschwand. Anfang Juni nahm sich in Warschau eine mehrtägige Konferenz dieses Themas an: New Perspectives on the History of the Jewish Labour Bund. Gemeinsame Ausrichter des Treffens waren das renommierte Jüdische Historische Institut (ŻIH) aus Warschau, die Forschungsinitiative www.bundism.net an der Freien Universität (FU) Berlin und die Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Eröffnet wurde die Konferenz durch Paweł Śpiewak, Direktor des ŻIH, Gertrud Pickhan von der FU, Jack Jacobs von der City University New York und Florian Weis, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung. WissenschaftlerInnen und PublizistInnen aus Polen, Israel, den USA, aus Ungarn, Großbritannien, Frankreich, der Schweiz, aus Kanada, Australien, Argentinien und aus Deutschland waren vertreten. Die Tagung, an der viele junge Menschen teilnahmen, verstand sich als Fortsetzung einer Veranstaltung, die 1997 zum 100. Gründungstag des Bundes am ŻIH und damals mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführt wurde. Auch deshalb bezeichnete Ezra Mendelsohn (Hebrew University Jerusalem) die Unterstützung der großen Würdigung des Bundes und der BundistInnen durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung als erfreuliche Paradoxie. Denn das Verhältnis von Rosa Luxemburg zum Bund sei durch vielfältige Widersprüche gekennzeichnet gewesen. In diesem Zusammenhang betonte Joanna Gwiazdecka, die Leiterin des Warschauer Büros der Stiftung, dass mit der Erforschung der Geschichte des Bundes zugleich auch immer ein bedeutendes Stück jiddischer politischer Kultur auf dem Boden Polens, Litauens und der Belarus rekonstruiert werde.

1897 gründeten jüdische ArbeiteraktivistInnen in Wilna (Vilnius) den Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland, kurz: Bund. Die Organisation konzentrierte sich vor allem auf jiddischsprechende ArbeiterInnen in den westlichen Industriezentren des damaligen Russischen Reiches, also insbesondere im sogenannten Königreich Polen und im historischen Litauen. Die Partei trat für eine national-territoriale Autonomie für die jüdische Bevölkerung ein, bekämpfte den aufkommenden Zionismus als ein den Zielen der Arbeiterbewegung abträgliches Element und war Gründungsmitglied der 1898 entstandenen Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAPR). Obwohl der Bund zur II. Internationale gehörte, waren die Beziehungen zu den Sozialdemokraten im Königreich Polen und zur sozialdemokratischen Partei des Gesamtreiches überwiegend vertrackt. Zumeist ging es um die durch den Bund angestrebte national-territoriale Autonomie für die jüdische Bevölkerung. Rosa Luxemburg hielt sie beispielsweise für ein ausgemachtes Hirngespinst, da die jüdische Bevölkerung auf keinem größeren geschlossenen Gebiet die Bevölkerungsmehrheit stelle. Auf diese für die Geschichte der Arbeiterbewegung in Polen, Litauen und Russland sensiblen Fragen verwies Feliks Tych auf einer Abendveranstaltung, die speziell dem Verhältnis von Rosa Luxemburg zum Bund gewidmet war. Es würden nur wenige zusammenhängende schriftliche Äußerungen von ihr vorliegen, aus denen ihre damalige Haltung erschlossen werden könne. Soweit sie sich ausführlicher zum Bund äußerte, habe sie es fast ausschließlich in ihren polnischen Schriften getan, die aber weniger bekannt wären. Außerdem fänden sich im umfangreichen Briefwechsel mit Leo Jogiches manch offene oder versteckte Hinweise. Für den Historiker der Arbeiterbewegung, so Tych, der von 1996 bis 2006 als Direktor das ŻIH leitete, lasse sich auf dieser zugegeben schmalen Basis die Haltung Rosa Luxemburgs zum Bund dennoch gut rekonstruieren. Hilfreich sei dabei vor allem die genaue Kenntnis der Beziehungen zwischen den einzelnen Arbeiterparteien in Polen, Litauen und Russland.

In den Debatten und Diskussionen wurde deutlich, dass insbesondere die jüngeren TeilnehmerInnen ihre Forschungsarbeiten zu den verschiedenen Seiten in der Entwicklung des jüdischen Arbeiterbundes als einen Beitrag verstehen, die Erinnerung an einen wichtigen Teil des jüdischen politischen Lebens in der Osthälfte Europas auch künftig wachzuhalten. Da der Bund nach 1918 im selbstständig gewordenen Polen, zu dem auch Wilna gehörte, als legale Organisation weiterbestand und sich durch ein vielfältiges politisches und öffentliches Leben auszeichnete, bietet sich dem/der HistorikerIn eine ergiebige Materialfülle. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Okkupation beteiligten sich die Bundisten am jüdischen und polnischen Widerstandskampf. Stellvertretend für die vielen sei hier an Marek Edelman erinnert, der im Frühjahr 1943 am Aufstand im Warschauer Ghetto teilnahm und wenige Monate später ab August 1944 zu den Warschauer Aufständischen gehörte. Die Warschauer Tagung zu neuen Fragen der Erforschung der Geschichte des jüdischen Arbeiterbundes bestätigte das internationale Interesse an diesem Gegenstand der europäischen Arbeiterbewegung, verdeutlichte zugleich aber die große Lücke, die sich beim Blick auf die Geschichte der Arbeiterbewegung in Polen und Russland für die meisten von uns auftut.

Holger Politt ist Referent für editorische und historische Arbeit zu Rosa Luxemburg in der Stiftung