Publikation Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen 2018 — Was bleibt?

Politischer Rückblick und Ausblick von Horst Kahrs

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

Horst Kahrs,

Erschienen

Dezember 2018

Ohne großen Widerspruch im Rahmen eines politischen Jahresrückblicks erwarten zu dürfen, kann als das wichtigste politische Ereignis des Jahres 2018 in Deutschland das Ende der «Ära Merkel» herausgestellt werden, genauer: Der politische Großversuch, ein kontrolliertes Ende herbeizuführen. Der Anfang vom Ende lag mit der letzten Bundestagswahl bereits im vergangenen Jahr und die Kanzlerschaft dauert an, längstens bis 2021. Politische Zyklen halten sich selten an Kalenderjahre. In diesem Sinne bedeutet politische Ereignisse des zurückliegenden Jahres erinnernd aufzugreifen, über nach persönlichen Kriterien ausgewähltes politisches Gepäck zu räsonieren, welches zusammen mit ein paar guten Wünschen mit ins neue Jahr genommen wird.
 

Öffentliche Debattenkultur pflegen und verteidigen

Ab 1. Januar 2018 sollte das «Netzwerkdurchsetzungsgesetz» seine volle Wirkung entfalten und helfen, Hasskriminalität, Hetze und Fake-News im Netz wirksamer zu unterbinden. Das Gesetz blieb bis heute weitgehend wirkungslos. Die erhoffte Zivilisierung der öffentlichen Debatte hat nicht stattgefunden. Die Sozialen Netzwerke wirken weiter als Medien und Beschleuniger von Verrohung, Lügen, Hetze, Hass, angedrohter psychischer und physischer Vernichtung. Ihre Click-Ökonomie birgt ein autoritäres, diktatorisches Potential, welches demokratische Zivilgesellschaften im Interesse autoritärer Herrschaft zersetzen kann. Autoritäre Herrschaft setzt auf Ressentiments, lebt vom Hass auf die Anderen, nicht von Fakten, Argumenten, Empathie, Kompromiss. Demokratische Rechte wahrzunehmen erfordert in manchen vermeintlich urdemokratischen Ecken dieser Welt mittlerweile eine bewundernswerte mutige Haltung. Stellvertretend sei hier Christine Blasey Ford erinnert, die immer noch mit Hassdrohungen überschüttet wird und ihren Beruf nicht ausüben kann.

Die öffentliche Debattenkultur in demokratisch verfassten Gesellschaften, in der unterschiedliche politische Positionen ausgefochten und plurale, oft gegensätzliche Interessen zu einem «Allgemeinwohl» geformt werden können, steht, eher neutral formuliert, unter großem Druck übermäßiger Leidenschaft und entsicherter Emotionen. Sie zu pflegen und zu verteidigen bleibt auch 2019 die herausragende Aufgabe nicht zuletzt politischer Bildungsarbeit. Eine kritische Evaluation gesetzgeberischer Versuche, zähmend zu wirken wie mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, gehört sicherlich dazu, aber gleichzeitig die Selbstverpflichtung nicht zuletzt der demokratischen Parteien, bei allem Rückgriff auf Emotionen und Affekte die institutionellen Sicherungen der repräsentativen Demokratie nicht zu beschädigen. Parteien wirken an der Willensbildung des Volkes mit – so begründet das Grundgesetz das Parteienprivileg, die öffentlichen Gelder für Parteien und ihnen nahestehende politische Stiftungen. Diese demokratische Aufgabe umschließt den Inhalt wie die Form der Willensbildung. Das Jahr 2018 war das Jahr, in dem großen Teilen der demokratischen Zivilgesellschaft bewusst wurde, dass die Institutionen der liberalen Demokratie keine selbstverständlichen Gegebenheiten sind. In der «#Unteilbar»-Demonstration mit einer knappen Viertelmillion Teilnehmenden fand dieses Erkennen ebenso Ausdruck wie in den vorausgegangenen Mobilisierungen der demokratischen Zivilgesellschaft gegen Polizeigesetz und Fremdenhass.

Verrohung nicht nur der Sprache

Auch 2018 bildete der Konflikt zwischen den Positionen «weltoffene Gesellschaft» und «Migration ist Mutter aller Probleme» (Seehofer, AfD) eine zentrale Achse politischer Kämpfe in Deutschland und Europa. Einige europäische Regierungen änderten aus Furcht vor populistischen Mobilisierungen ihre ursprüngliche Zustimmung zum UN-Migrationspakt. Die neurechte italienische Regierung verbot Seenotrettern mit vor dem Ertrinken geretteten Flüchtlingen an Bord das Anlegen in italienischen Häfen. Die Gemeinsamkeiten zwischen den Nationalstaaten in der europäischen Flüchtlingspolitik bestehen mehr und mehr in dem Einverständnis, dass Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, in Hotspots auf einigen griechischen Inseln zwecks Abschreckung menschenunwürdig festgesetzt und in neuen Auffanglagern in den nordafrikanischen Staaten Auffanglager verbleiben. Die humanitäre Verrohung der europäischen Gesellschaften wird damit nicht nur in Kauf genommen, sondern forciert. Die einstmals so wichtig genommene «besondere Verantwortung Deutschlands» angesichts seiner historischen Verbrechen wurde entsorgt. Der Begriff «Fluchtursachen bekämpfen» wurde in diesem Zusammenhang zum parteiübergreifend wohlfeil verwendeten Plastikwort der Politik des Jahres 2018. Schnell kann man sich darauf verständigen, dass Ursachenbekämpfung doch wirklich eine gute Sache wäre. Etliche meinen das durchaus ernst, andere sehen das als Alibi für die Bekämpfung von Migration.

Politische Lebenslüge 2018: Bekämpfung der Fluchtursachen

Was ist passiert, seitdem «Fluchtursachen bekämpfen» in aller Munde ist? Keine einzige kriegerische Auseinandersetzung wurde beendet. Kein einziges Programm wurde aufgelegt, mit dem etwa die Zerstörung der bäuerlichen Landwirtschaft südlich der Sahara – nicht zuletzt durch europäische Agrarpolitik – bekämpft und die Landflucht eingedämmt werden könnte. Kein einziges europäisches oder nationales Programm erreichte die interessierte Öffentlichkeit, mit dem der gebildeten jungen Generation in den Großstädten Afrikas eine wirtschaftliche Perspektive eröffnet würde. Von der Bewältigung der erst noch kommenden Verheerungen des Klimawandels ist hier noch gar nicht die Rede. Ein neues Interesse an den sozialen und politischen Verhältnissen in Afrika in der politischen Öffentlichkeit, in der medialen Berichterstattung ist nicht entstanden. Wer kennt hierzulande schon Cyril Ramaphosa? Wer kann sagen, ob und was Deutschland dazu beiträgt, dass der Friedensvertrag zwischen Eritrea und Äthiopien zu einem Erfolg wird? Ohne in gestiegenes öffentliches Interesse an den sozialen und politischen Verhältnissen in Afrika hierzulande wird mit «Fluchtursachen bekämpfen» nur die Vorverlagerung der Frontlinie gegen Migranten beschönigt.

«Bekämpfung der Fluchtursachen» ist die politische Lebenslüge des Jahres 2018: Beschwiegen wird, welche Veränderungen eine ernsthafte Bekämpfung in den Wirtschaftsbeziehungen und damit auch hierzulande hervorbringen würde; beschwiegen wird, dass - nach allem historischen Wissen über Migration, die auf fehlenden Lebensperspektiven beruht - die Wirkungen von Gegenmaßnahmen erst nach einer Generation wirklich greifbar werden würden; kurzum, beschwiegen wird, dass der «Migrationsdruck» bleibt - und damit eine sich immer weiter radikalisierende politische Mobilisierung entlang der angeblichen «Mutter aller Probleme» einerseits und das stillschweigende Einverständnis mit immer roher werdenden europäischen «Grenzschutzmaßnahmen» andererseits auf der Agenda bleibt. Aus dieser Spirale der Eskalation scheint ein Ausbruch nur vorstellbar, wenn Deutschland seine Haltung zu Europa ändert und beginnt, ernsthaft über eine europäische soziale Solidar- und Transferunion zu verhandeln.

Verunsicherung, Orientierungslosigkeit und Vertrauensverlust

Möglicherweise erhält die Nationalisierung nach «Brexit», Regionalismus und gescheiterter Solidarität mit den südeuropäischen Staaten in der Flüchtlingspolitik bei den Wahlen zum europäischen Parlament im Mai einen so starken Schub, dass der «point of no return» erreicht ist. Die Ära Merkel hat ihren Teil dazu beigetragen. Jahrelang hat sie sich für die Flüchtlinge nicht interessiert, dafür sollten Italien, Griechenland, Spanien zuständig bleiben. In der Banken- und Eurokrise hat sie einen strengen Kurs der Nationalisierung der Staatsschulden durchgesetzt und europäische Solidarität sehr klein geschrieben.

Das Plastikwort «Bekämpfung der Fluchtursachen» bezeichnet eine tiefgehende Verunsicherung der deutschen, ja der westlichen reifen Industriegesellschaften. Am besten kann man sich das vorstellen an den Emotionen, die die Vorstellung von «offenen Grenzen» auslöst. Wer der Auffassung ist, dass dann «alle» (nach Deutschland) kommen würden, der weiß und behauptet ja, dass es sich hierzulande besser leben lässt, und gibt zu erkennen,  dass er selbst ja auch dort hingehen würde, wo es sich besser leben lässt. Die Emotionen gegen offene Grenzen gründen auf dem Wissen, dass es die eklatante globale Ungleichheit und das Wissen «der Anderen» über diese Ungleichheit gibt. Die Fremden- und Islamfeindschaft ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte, die Brücke der autoritären Nationalradikalen in breitere Kreise der Gesellschaft, ist die Verteidigung des volkswirtschaftlichen Wohlstands. «Wir zuerst» ist indes keine Grundhaltung, mit der globale Probleme gelöst werden können. Es gehört zu den großen Versäumnissen der Politik in Deutschland über diese Grundfragen «unseres» Verhältnisses zur Welt und ihren (planetarischen Problemen) keine offenen gesellschaftspolitischen Richtungsdebatten zu führen und dies den Nationalisten zu überlassen.

Die deutsche Klimapolitik unterstreicht das Versäumnis des politischen Systems, mit der Gesellschaft darüber zu reden, wie wichtig die «Klimawende schaffen» sein soll. Nicht nur, dass der Koalitionsvertrag verabredet, die naheliegenden «Klimaziele» nicht erreichen zu wollen, nachdem wenige Jahre zuvor die Klimapolitik ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückt worden war. Warum politische Parteien generell ein anhaltendes Glaubwürdigkeitsproblem haben, veranschaulicht sich kaum besser, wenn einerseits unabwendbare planetarische Probleme des Überlebens beschworen werden und andererseits bei deren Abwendung nichts vorankommt, sondern im Gegenteil, sich der Kohlendioxid-Ausstoß wieder erhöht. Die Dieselaffäre wie der Braunkohlenichtausstieg zeigen, dass der Friede mit der Industrie wichtiger ist als ein planetarisches Problem.

Vorgeschoben werden meist die Arbeitsplätze, die zum Beispiel an der Braunkohle hängen. In der Tat, nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Selbstbewusstsein und über Generationen gewachsener Bergarbeiterstolz hängen an diesem Beruf. Diese Konfliktkonstellation zwischen Klimaschützern und Kohlearbeitern besteht seit über zwanzig Jahren, ohne dass ein substantieller Schritt zur Auflösung gemacht worden wäre. Was hätte eigentlich gegen eine beteiligungsorientierte Konversionspolitik gesprochen: Die Kohlekumpel, angemessen mit staatlichen Mittel ausgestattet, zu motivieren, neue Arbeitsplätze «zu erfinden» in Kooperation mit technischen Universitäten, die nach innovativen Lösungen zur Verminderung des CO2-Ausstoßes forschen. Mittlerweile sind nicht nur in Deutschland eine Reihe von Start-ups wie Climeworks, Gensoric, Covertis oder Ineratic entstanden, die Verfahren und Produkte entwickeln, CO2 zu recyceln oder weiterzuverwenden. Möglicherweise sind die Zeitfenster für solche Wege verpasst worden, weil einerseits bei Innovationen zu sehr auf «Marktkräfte» gesetzt und andererseits den Kohlebeschäftigten zu wenig kreatives Potential zugetraut wird. Jedenfalls führen solche Überlegungen zu der Frage, ob sich eine Linke ihre Leerstellen in der Technologiepolitik noch länger leisten kann.

Gescheiterte Privatisierungspolitik ist Nährboden für politisches Misstrauen

Der sich über Jahre hinziehende «zurückhaltende» Umgang mit den Betrügereien der deutschen Autoindustrie, der am Ende gerichtliche Fahrerbot provozierte und die auf die Angaben der Autobauer vertrauenden Dieselfahrer im Regen stehen ließ, unterstreicht nicht nur in den Augen Betroffener die Unfähigkeit «der Politik», die alltäglichsten Probleme vernünftig zu lösen. Plötzlich wird ein akuter Lehrermangel zum politischen Thema, obwohl die Kinder, die davon jetzt betroffen sind, ja bereits vor sechs und mehr Jahren geboren wurden. Über den Mangel an Pflegekräften wird seit zehn Jahren gesprochen, dem Verschleiß der Infrastruktur wird schon lange tatenlos zugesehen, Sanierungen werden oftmals wenig alltagspraktisch geplant und durchgeführt und die Mobilfunk- und Breitbandnetze zählen zu den miserabelsten in Europa. Die Privatisierungspolitik ist gescheitert, ihre vormaligen Protagonisten verweigern indes dieses Eingeständnis, wodurch die demokratische Grundskepsis gegenüber den politischen Vertretern sich vielfach in Misstrauen verwandelt. Zudem zeichnen verschiedene Umfragen seit der Bankenkrise 2008 ein Stimmungsbild, wonach eine große Mehrheit der Bevölkerung mit keinen weiteren allgemeinen Wohlstandssteigerungen rechnet und Zukunftshoffnungen darauf reduziert, dass es den Kindern zumindest nicht schlechter gehen wird. Eine Grundstimmung in der Gesellschaft scheint Verbesserungen nicht zu erwarten, aber um so heftiger das Versagen «der Politik» zu beklagen, wenn die erreichten Standards nicht erhalten werden können.

Wandel des bundesdeutschen Parteiensystems

Der Zustand der sozialen Infrastruktur, die ungelösten ökologisch-planetarischen Fragen und die offensichtlich Verrohung der demokratisch-bürgerlichen Umgangsformen bilden den Hintergrund für die Erfolge der Partei Die Grünen in den Umfragen und den Wahlen in Bayern und Hessen. Sie werden als linksliberal-bürgerlicher Gegenpol zu den Nationalisten der AfD und in anderen Parteien wahrgenommen, wobei »bürgerlich« hier ausdrücklich nicht den bourgeois, sondern den citoyen meint.

Die AfD ist Ende 2018 im Bundestag und in allen sechzehn Landesparlamenten, meist mit zweistelligen Ergebnissen, vertreten. Die AfD differenzierte und pluralisierte das rechte politische Lager, in dem sie die wertkonservative Unzufriedenheit und Wut über die Regierungspolitik mit einer radikalen Nationalisierung verband und sich durch ständige provokative Diskursüberschreitungen als politischer Außenseiter inszenierte. Verblieben die weit verbreiteten autoritären Einstellungen und Muster gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zuvor im voröffentlichen Raum der Stammtische und Alltagsgespräche, fördert die AfD nun ihre öffentliche Artikulierung und sammelt die zuvor von verschiedenen Parteien gebundenen autoritären und nationalistischen Potentiale. Gerahmt wird dies durch die Beschwörung einer großen äußeren Bedrohung für «Volksgesundheit», «Vaterland» und «Sozialstaat» durch die «Mutter aller Probleme» und «den Islam».

Das bundesdeutsche Parteiensystem befindet sich im raschen Wandel. 2018 wurde offensichtlich, dass die beiden ehemals dominierenden großen Parteien ihre stabilen Verbindungen in ihre traditionellen sozialen Milieus verloren haben. Die Bindungen müssen viel stärker als früher immer wieder erneuert werden. Die Differenzierung und Pluralisierung der Lebensverhältnisse und Interessenlagen, der beschleunigte soziale Wandel, in dem sich Individuen, Familien und Milieus behaupten müssen, erschwert es zugleich, politisch-ideologische Klammern zwischen unterschiedlichen «Zielgruppen» oder auch zwischen zentralen und peripheren Lebensräumen zu formulieren. Besonders schwer fällt es der Sozialdemokratie, die sich in manchen Regionen von politischer Bedeutungslosigkeit bedroht sieht. An ihrem Schicksal offenbart sich ein Dilemma, in welches sich die liberalen Demokratien manövriert haben, als sie die Dominanz der Ökonomie über die Gesellschaft – Privatisierung und Marktlogik im Sozialen – und über die Demokratie - «marktkonform» - akzeptiert haben. Wähler wurden diskursiv zurückgestutzt vom souveränen Bürger zu Kunden von politischen Angeboten, die sich weniger durch ihren Inhalt und mehr durch ihre werberische, personelle Verpackung unterschieden. Die Identitätspolitik der Partei bekommt in der neuen politischen Werbewelt absoluten Vorrang vor dem Allgemeinwohl. So endete das Jahr 2017 mit der Flucht der FDP vor dem Regieren und das Jahr 2018 begann mit der SPD in der selbstverschuldeten politischen Sackgasse: Entweder ein zu früh gegebenes Wort halten und tatsächlich Opposition werden oder den Meta-Auftrag annehmen, den der Souverän mit jeder Wahlentscheidung vor allem anderen erteilt, nämlich eine Regierung zu bilden.

Politik ist mehr als gutes sächliches Verwalten

Die kleinteiligen Parteikämpfe des Jahres 2018, oftmals als persönliche Animositäten inszeniert, haben uns ein weiteres politisches Plastikwort beschert. «Zur Sacharbeit zurückkehren!» soll Wunderkräfte politischer Heilung entfalten und wird daher von der Union über die SPD bis zur Linkspartei beschworen, wenn’s mal wieder hoch her ging, zwischen Personen und politischen Richtungen. In der Politik geht es jedoch nicht um «Sachen», sondern immer darum, wie die Verhältnisse zwischen Menschen und Institutionen in einer Gesellschaft gestaltet werden, wie die jeweiligen Rechte und Beziehungen von Kapital und Arbeit gestaltet werden, wie und wen der Sozialstaat vor existentieller Abhängigkeit schützt, wie Grundbedürfnisse erfüllt oder wo welche Art von Flüchtlingsunterkünften gebaut werden. Immer geht es um Interessen, um unterschiedliche Sichtweisen und die Macht, die eigene Position ganz oder zumindest per Kompromiss teilweise durchsetzen zu können. Und daher geht es immer auch um Emotionen und Affekte und nicht allein um pure Sachlogik, Vernunft. Die «Rückkehr zur Sacharbeit» erklärt den Modus der technokratischen Experten zum politischen Ideal: Entpolitisierung durch Delegation an Experten. Aber gerade in der Rolle des Experten hat sich «die Politik» in den vergangenen Jahren entzaubert. Auch sind in vielen Dingen die Bürgerinnen und Bürger die Experten des Alltags. Was fehlt, ist die Herausarbeitung der politischen Ordnungsprinzipien und Kriterien, der gesellschaftspolitischen Richtungen und Orientierungen, nach denen in einer «Sache» entschieden werden soll, die Ausformulierung der großen Ziele, die die Gesellschaft verfolgen sollte, im Inneren wie im Äußeren. Politik ist weit mehr als gute sächliche Verwaltung. Die Beschwörung der Sacharbeit bekräftigt technokratisch-autoritäre Tendenzen: Der Bürger sei eben nicht der Experte, und kaschiert das Versagen der Parteien, Probleme politisch so zu bearbeiten, dass der Bürger eine politische Entscheidung treffen kann.

Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit

Die Ära Merkel zeichnete sich durch den Modus der unaufgeregten, meist abwartenden Verwaltung aus. Leidenschaften, auch solche für das demokratische Allgemeinwohl, wurden heruntergedimmt. Zum Ende der Ära kehren die politischen Emotionen und Leidenschaften mit Wucht zurück und drohen, die Grundlagen einer republikanisch-demokratischen Gesellschaft und Konfliktaustragung zu erschüttern. Mit dem Jahr 2019 könnte eine neue Ära beginnen, eine Ära in der das Selbstverständliche nicht mehr als selbstverständlich, sondern als Umkämpftes betrachtet wird. Niemand wird als Demokrat geboren; der Bestand einer demokratischen Gesellschaft hängt stark davon ab, wieviel Zeit und Ressourcen sie in die ständige Wiederherstellung ihrer eigenen Voraussetzungen investiert: In Schulen, Universitäten, Betrieben, Zeit für politische Bildungsangebote. Diese Integrationsaufgabe ist keine Frage der Herkunft oder der Dauer der Zugehörigkeit.