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Polens Linke konnten die Wechselstimmung der Parlamentswahlen nicht für sich nutzen. Eine Wahlanalyse von Holger Politt. Text der Woche 44/2007

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Holger Politt,

Erschienen

Oktober 2007

Polens Linke konnten die Wechselstimmung der Parlamentswahlen nicht für sich nutzen. Eine Wahlanalyse von Holger Politt.

 

Als Jarosław Kaczyński im Sommer dieses Jahres die Auflösung des Parlaments und damit vorzeitige Neuwahlen provozierte, hatte er vor allem eines im Sinne: den Machterhalt. Seiner Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) waren die kleineren Koalitionspartner abhanden gekommen, neue Mehrheiten wurden benötigt. Kaczyński stand dabei nur der direkte Weg offen, hätte ihn doch ansonsten ein konstruktives Misstrauensvotum das Amt kosten können. Er setzte alles auf die Wahlkarte und wollte es noch einmal erzwingen. Unter seiner Regierung habe ein neues Polen begonnen und die vorgezogenen Parlamentswahlen seien ein Plebiszit, bei dem die Bürger des Landes sich für oder gegen dieses neue Polen zu entscheiden hätten.

Die Bürger entschieden sich in der Mehrheit gegen diese Version eines neuen Landes, schickten Jarosław Kaczyński in die Opposition. Er wurde ein Opfer der haarscharfen Polarisierung – wir und die anderen -, die er selbst erst eigentlich in Gang setzte. Dass er ganz am Schluss über die Medien herfiel, die Schuld an der entschiedenen Frontstellung der anderen gegen ihn hätten, war ein Zeichen der tiefen Enttäuschung. Sein Konzept, mit 5 Millionen Wählerstimmen die Wahlen zu gewinnen, ist nicht aufgegangen. Zwar erreichte PiS mit 5,18 Millionen Wählerstimmen (32,11%) numerisch tatsächlich das angestrebte Ziel, doch die Konkurrenz erreichte die doppelte Anzahl an Wählern. Der Löwenanteil entfiel auf die rechtsliberale Bürgerplattform (PO), die mit 6,7 Millionen Stimmen (41,51%) einen in dieser Höhe unerwarteten Sieg einfuhr und PiS deutlich überflügelte. Den Sprung ins Parlament haben außerdem ein Mitte-Links-Bündnis (LiD) mit 2,12 Millionen Stimmen (13,15%) und die Bauernpartei (PSL) mit 1,44 Millionen Stimmen (8,91%) geschafft.

Zum Verhängnis wurde dem amtierenden Ministerpräsidenten eine in dieser Stärke nicht erwartete Anti-Kaczyński-Stimmung, die erst zum Ende der Wahlkämpfe hin vor allem jüngere Wähler aktivierte. Alleiniger Nutznießer dieser gewaltigen Stimmungswelle wurde Donald Tusk, der Spitzenkandidat der PO, der vor zwei Jahren in der Stichwahl für das Amt des Staatspräsidenten dem Zwillingsbruder Lech Kaczyński noch unterlegen war. Der Aufruf, wählen zu gehen, war in den letzten Tagen der Wahlkampagne das Erkennungszeichen der auf PO sich einstellenden Kaczyński-Gegner. Die Wahlbeteiligung lag mit 54% deutlich höher als vor zwei Jahren, was insbesondere auf das Wahlverhalten in den Großstädten zurückzuführen ist (Warschau z. B. 74%). In vielen ländlich geprägten Regionen – ein Rückhalt für PiS – lag die Wahlbeteiligung hingegen häufig unter 50%. Die zusätzliche Wählermobilisierung hatte zudem kaum Effekte in der Altersgruppe der über 60jährigen, der einzigen Altersgruppe, in der PiS mit 42% vor PO (28%) lag.

 

„Eine Schlacht verloren, aber noch nicht den Krieg“

 

An markigen Worten hat es Jarosław Kaczyński nie gefehlt. Während der Kampagne eröffnete er dem staunenden Publikum, dass eine Koalition ohne PiS im Grunde die Wiederholung des 13. Dezembers 1981 darstelle, also der Ausrufung des Kriegsrechtes gleiche. Auf die neugierige Journalisten-Frage, was denn werde, wenn PiS die Wahlen nicht gewinnen sollte, kam die deutliche Antwort: Dann müsse er sich an die Spitze einer Bewegung stellen, die der billigen Konterrevolution entschieden entgegentrete. Die Wahlniederlage bezeichnete er als verlorene Schlacht, gab aber zu bedenken, dass der Krieg als ganzes längst noch nicht verloren sei. Und in der Tat sind ihm Erfolge bei der Konsolidierung des rechtskonservativen Wählerspektrums nicht abzusprechen. PiS erhielt 2 Millionen Wählerstimmen mehr als 2005. Seit 1989 ist ein so kräftiger Stimmenzuwachs noch keiner Regierungspartei gelungen. Rechts von PO gibt es eigentlich nur noch PiS, eines der strategischen Ziele der Kaczyński-Brüder.

Die beiden ehemaligen Koalitionspartner, die bauernpolitische Samoobrona (1,53%) und die national-katholische Liga der Polnischen Familie (LPR; 1,3%), stehen faktisch vor dem Aus, auch weil ein Großteil der bisherigen Anhängerschaft bei PiS sich gut aufgehoben sieht. Hier brachte die durch den PiS-Vorsitzenden gewollte Polarisierung der politischen Szene die gewünschten Effekte. Und in den Großstädten, die bei Wahlforschern als schwieriges Pflaster für die PiS gelten, bekam die Kaczyński-Partei auch zumeist über 25% der Stimmen. Zudem wird er darauf verweisen wollen, dass die Bindungen zwischen PiS und ihrer Wählerschaft in den zurückliegenden zwei Jahren enger geworden sind. Die Kaczyńskis können sich zu gute schreiben, ein Drittel des Landes hinter sich zu wissen. Sie werden es auf ihre Art zu nutzen versuchen.

Und dennoch fiel dem scheidenden Ministerpräsidenten, nach seiner Oppositionsrolle befragt, in den ersten Tagen nach der Wahl nicht viel mehr ein, als auf seinen Zwillingsbruder im Präsidentenamt zu verweisen. In der Tat darf Polens Staatspräsident jeden Gesetzesvorschlag an das Parlament zurückweisen, wodurch die Zustimmungshöhe von der einfachen Mehrheit auf eine Zwei-Drittel-Mehrheit angehoben wird. Doch die für die Absicht der Kaczyński-Brüder so entscheidende Sperrminorität hat PiS knapp verfehlt, d. h. alle anderen Parteien zusammen wären bei Einigkeit in der Lage, dass Präsidentenveto zu überstimmen. Eine Konstellation, die den Parlamentarismus stärkt und den beiden kleineren Parlamentsfraktionen LiD und PSL den Rücken stärken sollte. Wer immer von beiden Gruppierungen nach der Regierungsbildung in der Opposition zurückbleiben wird, der darf zumindest frohlocken, in den meisten Fällen das Zünglein an der Waage sein zu können.

 

Der alles überragende Sieger

 

Es wäre ungerecht, den haushohen PO-Sieg alleine auf die Anti-Kaczyński-Stimmung zurückzuführen. Dennoch sind sich fast alle Beobachter in der Auffassung einig, dass diese Formation vor riesigen Herausforderungen steht. Vor den Wahlen 2005 galten PO und PiS als eigentlich natürliche Bündnispartner. Das es dann sehr schnell anders kam, führte mittelbar zu den vorgezogenen Parlamentswahlen von 2007. Und wieder schien es zunächst, dass eine Koalition zwischen den beiden großen Rechtsparteien der einzig mögliche Ausweg aus der instabilen Situation der letzten Monate sei. Bei der Suche nach geeignetem Personal jenseits der Spitzenleute Kaczyński und Tusk wurde man schnell fündig. Während die Spitzenkandidaten ihre Kampfstellungen bezogen, bastelten die Partei-Strategen bereits an einem B-Plan. Jeder knappe Ausgang bei einem Niveau von etwa jeweils 30-35% der Wählerstimmen hätte das Zusammengehen der seit 2005 verfeindeten „Brüder“ wahrscheinlich gemacht. Die Variante, dass einer von beiden schließlich die Nase so deutlich vorne haben wird, wurde fast ausgeschlossen.

Auch wenn PO die absolute Mehrheit im Parlament knapp verfehlt hat, so kann sie nun ohne Not auf Koalitionssuche gehen. Da PO als „großstädtische“ Partei gilt, spräche vieles für eine Koalition mit der auf dem Lande verankerten PSL, denn die Erfahrung der zurückliegenden Jahre lehrt, dass Polen nur bedingt alleine aus der Großstadtperspektive heraus regiert werden kann. LiD, die andere Möglichkeit, hat aber auf dem Lande ähnlich wie PO keine rechte Verankerung.

Im Kern orientiert das PO-Programm auf die Einführung eines linearen Steuersatzes und die damit notwendig einhergehenden Konsequenzen. Polen, so die allgemeine Begründung, benötige im Aufholprozess gegenüber den wirtschaftlich mächtigen EU-Ländern ein stabiles und vergleichsweise hohes Wirtschaftswachstum, dem alle anderen Bereiche nachgeordnet werden müssten. In der Folge setzten die PO-Strategen bisher auf stärkere „Mitwirkung“ der Bürger in solchen empfindlichen Bereichen wie Bildung, Gesundheit und Rente. Hier griff vor zwei Jahren Jarosław Kaczyński mit seinem Bild eines „solidarischen Polen“ ein, welches dem „liberalen Polen“ entgegengestellt werden müsse. Die Segnungen des Wirtschaftswachstums, so seine diesjährige Botschaft, müssten allen Bürgern – egal ob arm oder reich – zugute kommen. Die nächsten Monate werden schnell zeigen, was die PO-Führung und der künftige Ministerpräsident Donald Tusk unter Modernisierung des Landes genauer verstehen.

Mit PO übernimmt übrigens erstmals seit 1989 eine Partei die Regierungsverantwortung, die keine engeren Beziehungen zu einer der beiden großen Gewerkschaftszentralen („Solidarność“ oder OPZZ) pflegt. Im Parlament sitzen „Solidarność“-Mitglieder bei PiS, OPZZ-Mitglieder bei LiD.

 

Die Ernüchterten

 

Bereits vor einem Jahr trat die Demokratische Linksallianz (SLD) zusammen mit weiteren kleineren linksgerichteten Gruppierungen und der Demokratischen Partei (PD) unter der Bezeichnung LiD (Die Linke und Demokraten) bei den Lokal- und Regionalwahlen an. Die Tatsache aber, dass die zusammengeschlossenen Parteien damals weniger Stimmen holten als die Summe der Einzelergebnisse bei den Parlamentswahlen 2005, wurde erklärt mit dem schlichten Hinweis, der Wähler müsse sich erst an die neue Marke gewöhnen. Ein Probelauf also, der mit landesweit zusammengerechneten 16% der Stimmen gar nicht so schlecht ausfiel. Bei diesen Wahlen galt das Argument indes nicht mehr. Da die Summe der Einzelergebnisse 2005 knapp 17% betrug, wurde die Latte durch die LiD-Strategen frühzeitig auf die 20%-Marke gehoben. Garant des Erfolges sollte Aleksander Kwaśniewski sein, Polens Staatsoberhaupt der Jahre 1995-2005. Kaum einer durfte erwarten, dass der weithin geachtete Mann im Verlaufe der Wahlkampagne eher zu einer Belastung für LiD werden sollte. Die Verkündung, er sei der Spitzenmann für LiD, erwies sich als folgenreicher Fehler, denn ohne selbst zu kandidieren zehrte er fast ausschließlich von den Meriten der Vergangenheit. Die dann nachgeschobene Korrektur, er stünde notfalls als künftiger Ministerpräsident doch noch zur Verfügung, machte die Sache nicht besser. Kwaśniewski kam nicht in Form und bestätigte in seinem Auftreten insgeheim den Vorwurf der politischen Gegner, LiD sei ein lau gewordener Aufguss aus weit zurückliegender Zeit. Die Linken und die Demokraten hatten mit Kwaśniewski an ihrer Spitze im Wettlauf mit den PO-Liberalen keine Chance, beim Stichwort „bessere Zukunft“ bei jüngeren Wählern entscheidend zu punkten. Seine Zeit, dass musste er bitter zur Kenntnis nehmen, ist zumindest in der Innenpolitik Polens abgelaufen. Er wollte noch einmal Galionsfigur sein und fiel dabei ins Wasser. Wer in zehn Jahren Amtszeit nach und nach, und teilweise sogar ohne Not, die meisten der einstigen Grundsätze über Bord warf, steht dann selbst in der Rolle eines bekennenden „Europäers“ und „Demokraten“ inmitten dramatisch zugespitzter politischer Auseinandersetzungen plötzlich eher hilflos herum. Ihn trieb es in die politische Mitte und er wurde bitter enttäuscht. Die Mehrheit der einstigen PD-Wähler (2005 fast 3%) wandte sich von LiD ab und wählte PO. Eine stärkere Profilierung nach links hielt Kwaśniewski beizeiten für überflüssig.

Freilich darf das mäßige Abschneiden der Wahlaktion LiD nicht allein dem (geborgten) Spitzenmann angelastet werden. Die vorherrschende Botschaft war die Positionierung gegen die Kaczyńskis, in der Hoffnung, hier konsequenter auftreten zu können als PO. Immerhin rechnete man ja damit, dass PO ernsthaft an eine zukünftige Koalition mit PiS denken muss. Man sah sich selbst in der Rolle desjenigen, der PO in dieser Frage vor sich hertreibt. Dabei traten Überlegungen zur Zukunft des Landes in den Hintergrund. Man wurde den Ruf nicht ganz los, eigentlich eine Formation zu sein, die zurück wolle in die Vor-Kaczyński-Zeit. Linke Kritiker machten frühzeitig darauf aufmerksam, dass der Aufstieg der Kaczyńskis sehr viel mit den vielen sozialen Verwerfungen, den Versäumnissen und den offensichtlichen Ungerechtigkeiten in der Zeit bis 2005 zu tun hat. Dazu aber gab es keine Aussagen. Die eifrig vorgetragene Botschaft hingegen, das Bündnis der einstigen Gegner zeige, wie alte Gräben auch in Polen sehr wohl zugeschüttet werden können, hat sich im Umfeld teils dramatischer Auseinandersetzungen als Ladenhüter erwiesen. Geholfen hat am Ende bei vielen Wählern die Einsicht, dass auf der linken Seite eine relevante Alternative nicht in Sicht war.

 

Die Verlierer

 

Zu den großen Verlierern zählen Roman Giertych (LPR) und Andrzej Lepper (Samoobrona), die von Mai 2006 bis Sommer 2007 Minister und stellvertretende Ministerpräsidenten waren. Ihre Parteien verfehlten nicht nur deutlich den Wiedereinzug in das Parlament, sie blieben auch weit unter der für staatliche Parteienfinanzierung obligatorischen 3%-Hürde. Giertych trat bereits als Parteivorsitzender zurück. Beide Parteien werden es schwer haben, sich von diesem Tiefschlag zu erholen. Einige LPR-Aktivisten kündigten bereits an, am Aufbau einer neuen national-konservativen Formation mitwirken zu wollen. Sie halten PiS in einer ganzen Reihe von Fragen für inkonsequent, also für zu liberal (EU-Vertrag, Abtreibungsrecht usw.).

Zu den Verlierern zählt aber auch Leszek Miller, der 2001 noch ähnlich jubeln durfte wie heuer Donald Tusk. Der SLD-Mitbegründer und langjährige Parteivorsitzende (1999-2004) trat im September dieses Jahres demonstrativ aus der SLD aus, da ihm die Möglichkeit verwehrt wurde, im Rahmen von LiD zu kandieren. Dankend nahm er eine Einladung von Samoobrona-Chef Lepper an, der ihm umgehend den Spitzenplatz in der Heimatstadt Łódź anbot. Vom Sejm aus, so sein Ansinnen, wollte er sich für den Neuaufbau einer Linken in Polen engagieren. Das Scheitern der Samoobrona bedeutet somit nicht nur das Aus für hochtrabende Pläne, es besiegelt zugleich den politischen Abschied eines der wichtigsten und zugleich umstrittensten Persönlichkeiten der polnischen Linken nach 1989.

Wenig trösten wird es Miller, dass mit ihm zusammen auf Samoobrona-Ticket auch Piotr Ikonowicz scheiterte, der in den 1990er Jahren unter Polens Linken den lautesten Kritiker am Miller-Kurs gab und sich über viele Jahre hinweg vergeblich für eine Neue Linke einsetzte.

 

Fazit

 

Die Zügel, die Jarosław Kaczyński der Gesellschaft anzulegen suchte, erwiesen sich von Anfang an als untauglich. Fahrlässig wurde mit demokratischen Freiheiten gespielt. Diejenigen, die öffentlich darauf aufmerksam zu machen suchten, befanden sich immer in schwieriger Situation. Zumeist wurde ihnen unterstellt, sie verkennten die eigene demokratische Tradition. Denn vor die Frage gestellt, für oder gegen Józef Piłsudski zu sein, den Staatsgründer von 1918, der ab 1926 mit wenig demokratischen Mitteln Staat und Gesellschaft „gesunden“ wollte, gingen noch viele in die Knie. Polens Bürger haben mit der Wahl einen wichtigen Schritt getan, heutige Gesundmacher rechtzeitig in demokratisch geltende Schranken zu weisen. Vielleicht werden die zurückliegenden zwei Jahre bald zu einem Lehrbeispiel dafür, wie es nicht geht. Die aufmerksamsten Zuhörer müssten dann jene sein, die meinen, es könne alles so bleiben wie es ist.

 

Holger Politt ist Leiter des Auslandsbüros der RLS in Warschau.

 

Dieser Artikel erscheint zeitgleich in der Zeitschrift »Sozialismus« (Heft Nr. 135, 11/2007)