Es kommt nicht selten vor, dass Melih Gökçek, Oberbürgermeister der türkischen Hauptstadt Ankara, mit Hetze gegen Andersdenkende und absurden Verschwörungstheorien unangenehm auffällt. Allerdings schien er bisher aufgrund seiner Stellung innerhalb der Regierungspartei AKP unangreifbar zu sein – juristisch und innerparteilich. Nun bröckelt dieser Schutz. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan forderte kürzlich persönlich den Rücktritt einiger Bürgermeister, darunter auch Melih Gökçek.
Hinter dieser, für Außenstehende überraschend wirkenden Entwicklung, steckt die Unzufriedenheit Erdoğans über die aktuelle Lage der Regierungspartei AKP. Der Staatspräsident ist vor allem enttäuscht, dass die AKP bei dem Referendum am 16. April 2017 über die Einführung des Präsidialsystems nicht ausreichend Wähler*innen für ein «Ja» mobilisieren konnte. Untersuchungen, die inzwischen vorliegen, legen nahe, dass eine Mehrheit der Wähler*innen gegen das Präsidialsystem stimmte und nur durch Wahlfälschungen ein anderes Ergebnis herbeigeführt werden konnte. Erdoğan spricht seither von einer «Materialermüdung» innerhalb der AKP und fordert eine tiefgreifende Umstrukturierung der Regierungspartei. Dabei sind unter anderem einige Bürgermeister in Erdoğans Visier geraten, darunter jene der Großstädte Istanbul, Ankara und Bursa. In den türkischen Metropolen ist die Skepsis gegenüber der AKP-Regierung besonders groß und Erdoğan glaubt offenbar nicht, dass die amtierenden AKP-Bürgermeister dies ändern könnten.
Kadir Topbaş, Oberbürgermeister von Istanbul, trat bereits am 22. September zurück. Mehmet Keleş, Bürgermeister von Düzce folgte am 2. Oktober. Faruk Akdoğan, Bürgermeister von Niğde, gab sein Amt am 19. Oktober ab. Übrig bleiben die (Ober-)Bürgermeister von Bursa, Balıkesir und Ankara. Während der «freiwillige» Rücktritt der Bürgermeister von Bursa und Balıkesir demnächst folgen dürfte, könnte Ankaras Oberbürgermeister Melih Gökçek Erdoğan einigen Ärger bereiten. Gökçek verkündete wiederholt öffentlich, dass er nicht vorzeitig zurücktreten, sondern bis zu den Kommunalwahlen 2019 im Amt bleiben wolle. Es kommt nicht häufig vor, dass AKP-Politiker sich gegen den erklärten Willen des Staatspräsidenten stellen. Üblicherweise reicht mehr oder weniger sanfter Druck und als ultima ratio die Festnahme von den jeweiligen Politikern nahestehenden Personen, um für Gehorsam zu sorgen.Gökçek spekuliert möglicherweise darauf, dass Erdoğan ihn im Amt belässt, wenn er sich lange genug gegen seine Absetzung wehrt. Allerdings steht für den Staatspräsidenten selbst einiges auf dem Spiel. Spätestens bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2019 braucht Erdoğan einen eindeutigen Sieg. Dieser soll mit einer erneuerten AKP gelingen. Allerdings ist nicht absehbar, ob die Neustrukturierung der AKP zügig gelingen kann und alle AKP-Politiker*innen, die jetzt entmachtet werden sollen, dies einfach so hinnehmen. Es wäre sogar denkbar, dass die aktuellen parteiinternen Vorgänge kurz- und mittelfristig einige Gruppen der AKP-Wähler*innen abschrecken. Insofern ist es mitnichten ausgemacht, dass die «Säuberung» der AKP aus Sicht von Erdoğan ein Erfolg wird – oder er am Ende die Wahlen 2019 gerade deswegen verliert, weil zu viele wichtige Akteure aus der Partei gedrängt wurden.
Dass das Risiko eines Wahldebakels besteht, ist nicht zuletzt daran ablesbar, dass Erdoğan für die Präsidentschaftswahl Kräfte außerhalb der AKP für sich zu mobilisieren versucht. Regierungsnahen Medien zufolge plant Erdoğan, den Parteivorsitzenden der ultrarechten MHP, Devlet Bahçeli, und die ehemalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller von der rechtskonservativen DYP als Vizepräsident*innen bei der Präsidentschaftswahl 2019 zu nominieren. Damit sollen die türkisch-nationalistischen und der rechtskonservativen Wähler*innen außerhalb der AKP-Klientel erreicht werden. So geht Erdoğan offenbar mit zwei parallelen Strategien in den Wahlkampf: Einerseits die AKP umzugestalten und andererseits, falls dies nicht erfolgreich sein wird, auf Kräfte außerhalb der AKP zu setzen.