«100 Seiten» («für 100 Minuten») heißt die Reclam-Reihe, in der Micha Brumliks Buch «Antisemitismus» kürzlich erschienen ist. Ihm gelingt es darin überzeugend, in diesem kurzen Format eine Darstellung des Antisemitismus und Antijudaismus in den letzten 2.000 Jahren zu geben. Eine zentrale Ursache für die im Vergleich zu den vorherigen Jahrhunderten wesentlich brutalere Ausgrenzung und Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Europa ab dem ausgehenden 11. Jahrhundert sieht er in den beginnenden starken Umbrüchen dieser Gesellschaften, also keineswegs nur vordergründig in den Kreuzzügen:
«In dieser Umbruchszeit wurden die Juden zu klassischen Sündenböcken, die in einer Jahrhunderte währenden Leidenszeit immer wieder den Preis für die Unbill derer zu zahlen hatten, die unter den massiven gesellschaftlichen Umbrüchen litten.» (S. 27.)
Einen mithin wesentlich - wenn auch nie ausschließlich - in ökonomischen und sozialen Umbrüchen und Verwerfungen wurzelnden Erklärungsansatz verfolgt Brumlik auch für spätere Phasen des Antisemitismus (S. 66). Indem er Antisemitismus als «rassistische Erscheinungsform der Judenfeindschaft» und als «sehr spezielle Variante des Rassismus» (S. 7) definiert, hebt er sich auch von anderen Deutungsrichtungen ab. Den endgültigen Übergang in den «modernen» Antisemitismus schildert Brumlik an den bekannten Beispielen von Arndt, «Turnvater» Jahn und Fichte bis hin zu Marr und Stoecker. Vergleichsweise ausführlich kritisiert er dabei Karl Marx. Diese Auffassung ist nun natürlich dazu angetan, in einem linken Umfeld kritisch erörtert zu werden; Marx vermeintlicher Antisemitismus wurde ja auch immer wieder kontrovers behandelt. Entscheidender ist jedoch, ob damit die auf Marx fußende Kapitalismusanalyse und -kritik als antisemitisch kontaminiert beschrieben wird, was Brumlik nicht tut.
Für ein linkes Publikum ist zudem sicherlich Brumliks knappe Einschätzung der realsozialistischen Gesellschaften vor 1989/91 von Interesse und Anlass für Diskussionen. So richtig dabei der Hinweis auf den Antisemitismus etwa in den stalinistischen Schauprozessen vor allem in der UdSSR und CSSR zwischen 1948/49 und 1952/53 ist, so fehlt doch der Hinweis auf die spürbaren Veränderungen in den realsozialistischen Ländern nach 1953/56. Zur von Brumlik in Bezug auf Israel heftig kritisierten Außenpolitik der DDR (S. 70) sei hier auf die Beiträge von Angelika Timm verwiesen.
Trotz der dem Format geschuldeten knappen Gesamtdarstellung behandelt Brumlik die Thematik eines israelbezogenen Antisemitismus wohltuend differenziert (S. 78ff.). Zum Vergleich von Antisemitismus und «heutiger Islamophobie» formuliert er: «Für eine strukturelle Ähnlichkeit des Antisemitismus im späten Kaiserreich mit der heutigen Islamophobie, für semantische Überschneidungen zwischen den Äußerungen Treitschkes und Thilo Sarrazins sowie auch Helmut Schmidts, liegen viele Indizien vor – Staatsanwälte würden von einem >begründeten Anfangsverdacht< sprechen.» (S. 85).
Brumlik plädiert abschließend dafür, «(…) die Perspektive einer universalistischen Bildung zu den Menschenrechten sowie zu einem im Zeitalter der UN-Konventionen auch effektiv gewordenen Weltbürgertum an[zu]streben.» (S. 99).
«Antisemitismus. 100 Seiten» ist nicht nur eine in ihrer hoch anspruchsvollen Knappheit gelungene Überblicksdarstellung, sondern auch eine gute Grundlage für etwas, das in verschiedenen «Lagern» so oft fehlt, eine auf Sorgfalt fußende, seriöse Debattenkultur, die eine andere Art von Kontroversen und Problembeschreibungen ermöglicht - und somit letztlich auch eine wirkungsvolle Bekämpfung jedes Antisemitismus.
Micha Brumlik: Antisemitismus. 100 Seiten; Reclam Verlag, Ditzingen 2020, 100 S., 10 EUR
Die Langfassung der Rezension im PDF.