Nachricht | Israel - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina «Jahrelang äußerst besorgt zu sein, reicht nicht»

Karin Gerster zur aktuellen Lage in Palästina

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Dr. Karin Gerster
Dr. Karin Gerster

Karin Gerster leitet das RLS-Büro Palästina-Jordanien mit Sitz in Ramallah/Westbank. Mit ihr sprach Katja Hermann, Leiterin des Westasien-Referates der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
 

Katja Hermann: Du arbeitest seit vielen Jahren zu bzw. in Palästina und hast verschiedene Krisen vor Ort miterlebt. Inwieweit hat Dich die derzeitige Eskalation, beginnend mit dem Massaker der Hamas an israelischen Zivilist*innen am 7. Oktober, überrascht?

Karin Gerster: Wie viele andere war ich überrascht und schockiert. Die Gräueltaten gegen israelische Zivilist*innen sind nicht zu entschuldigen. Seit der neuen rechtsextremen Regierung in Israel und der damit einhergehenden zunehmenden Militanz von israelischen Siedler*innen gegen die palästinensische Bevölkerung in der besetzten West Bank, nahm die Gefahr einer ebenfalls militanten Reaktion von Palästinenser*innen zu. Es lag eine Spannung in der Luft. Wie gesagt, ich war schockiert und gleichzeitig zutiefst beunruhigt, weil mir klar war, dass die Reaktion der Netanjahu-Regierung die Hölle für die Menschen in Gaza würde.

Das Ausmaß der Gewalt seitens israelischer Siedler*innen und Sicherheitskräfte gegenüber Palästinenser*innen ist in den letzten Monaten ständig gestiegen. Was hätte getan werden müssen, um die aktuelle Eskalation zu verhindern?

USA und EU, insbesondere Deutschland, hätten sich nicht jahrelang nur «äußerst besorgt» über das israelische Nicht-Einhalten der Osloer-Verträge von 1993 äußern dürfen, sondern sie hätten sich aktiv für ein Ende der israelischen Besatzung, ein Ende der Abriegelung des Gaza-Streifens und einen Stopp des illegalen Siedlungsbaues einsetzen müssen. Sie hätten die Interessen der Palästinenser*innen und ihrer politischen Vertreter*innen gleichberechtigt berücksichtigen müssen.

Die geographische und politische Fragmentierung der palästinensischen Gebiete hat dazu geführt, dass der Gazastreifen und die West Bank sehr unterschiedlich aufgestellt sind und eine gewisse Distanz zwischen beiden Gebieten besteht. Wie stellt sich dieses Verhältnis in der aktuellen Krisensituation dar?

Trotz der geographischen Fragmentierung und der dadurch entstandenen Distanz sind die Palästinenser*innen untereinander durch ihre gemeinsame Geschichte, die Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Besatzung sowie durch Familienbande eng miteinander verbunden. Auch die Verbindungen zu den palästinensischen Israelis, also Palästinenser*innen, die 1948 nicht geflohen oder vertrieben worden sind, sind stark. Diese Verbundenheit und Solidarität untereinander trägt in der Bevölkerung, besonders in Zeiten von Krieg und Gewalt.

Wie wird die Hamas in der West Bank wahrgenommen, wo sie keine politische Macht hat?

Die Hamas ist eine islamistische Partei, die aus der ägyptischen Muslimbruderschaft hervorgegangen ist. Sie wurde in den 1980er Jahren von israelischen und amerikanischen Geheimdiensten mit aufgebaut, um die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) zu schwächen. Die Hamas besteht aus unterschiedlichen politischen Flügeln und steht aufgrund ihres militanten Vergehens auf den Terrorlisten von USA und EU. Die Hamas ist seit vielen Jahren der große Gegenspieler der in Ramallah regierenden Fatah. Präsident Mahmoud Abbas von der Fatah hatte die für 2021 die angesetzten Parlamentswahlen wohl auch deshalb verschoben, weil zu befürchten war, dass er die Wahlen nicht gewinnen würde. Laut Umfragen lag die Hamas zu der Zeit knapp vorne und ein eindeutiger Wahlsieg für die Fatah war unklar.  

Es herrscht eine zunehmende Unzufriedenheit und Frustration mit dem autoritären und korrupten Regime der in Ramallah regierenden Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) unter Mahmoud Abbas. Sie hat die in den Osloer-Verträgen unterzeichnete Sicherheitskooperation mit Israel bislang nicht aufgekündigt. Das macht sie in Augen vieler Palästinenser*innen zum Erfüllungsgehilfen der Besatzungsmacht.

Es besteht die Gefahr, dass die Hamas, die sich in ihrem Selbstverständnis als Widerstandsbewegung versteht und über einen aktiven militanten Flügel verfügt, die Kritik an der Fatah und die schwierige, aussichtslose Lage in den palästinensischen Gebieten für sich nutzen kann. Sie ist für viele junge Menschen attraktiv. Das zeigen auch die regelmäßigen Wahlsiege der Hamas bei den Studierenden-Wahlen an den Universitäten in der West Bank, wie beispielsweise an der Birzeit-Universität in Ramallah und an der An-Najah-Universität in Nablus. Diese Wahlen werden von der palästinensischen Bevölkerung und von politischen Beobachter*innen mit großem Interesse verfolgt, weil sie als politisches Spiegelbild interpretiert werden.

Die palästinensische Linke ist bekanntlich schwach und stellt sich in Krisen- und Kriegssituationen häufig hinter radikalislamische Kräfte. Wie sehen derzeit linke Analysen und Forderungen aus?

Die einst starke palästinensische Linke liegt seit langem bei Umfragewerten bei nur rund fünf Prozent. Sie vertritt mit Blick auf den Krieg klare Forderungen: Sofortiger Stopp des Krieges, keine Doppelstandards des Westens mit Blick auf Palästinenser*innen, ein Ende der Besatzung, die Umsetzung der angekündigten Wahlen und eine freie und demokratische Gesellschaft für alle Palästinenser*innen mit einem anti-neoliberalen Wirtschaftskonzept.

Palästinenser*innen bezeichnen die Situation in Gaza, in der viele Hunderttausende Menschen aufgefordert wurden, in den Süden des Gazastreifens zu gehen, als erneute Nakba (arab. Katastrophe) und beziehen sich damit auf die Flucht und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung im Kontext der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948. Wie schätzt Du die gegenwärtige Situation ein?

Mit Stand von heute (26. Oktober 2023, Anm. d. R.) sind rund 1,4 Millionen Menschen innerhalb des Gazastreifens auf der Flucht, das ist mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Grund dafür sind die täglichen Bombardierungen und Zerstörungen von Häusern und Infrastruktur. Das israelische Militär hat die Menschen im Norden des Küstenstreifens aufgefordert, in den Süden zu gehen, weil dort nicht bombardiert würde. Dies erwies sich allerdings als ein tödlicher Irrtum, auch dort wurde bombardiert. 590.000 Menschen haben in 150 Unterkünften des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNWRA) Zuflucht gefunden. Wir sprechen derzeit von rund 6.500 Toten und über 16.300 Verletzten, überwiegend Frauen und Kinder. Auf Anordnung des israelischen Verteidigungsministers Yoav Gallant hat Gaza seit Tagen kein Benzin für die Generatoren mehr bekommen, Krankenhäuser können nicht mehr arbeiten, bereits zwölf Krankenhäuser und 46 Erstvorsorgeeinrichtungen mussten ihren Betrieb einstellen, Bäckereien können nicht mehr arbeiten. Die Bevölkerung hungert – kein Wasser, keine Lebensmittel, kein Strom.  «Wir verhängen eine vollständige Belagerung über Gaza. Kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Treibstoff. Alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir werden entsprechend handeln», so der israelische Verteidigungsminister am 9. Oktober 2023.

Was derzeit in Gaza passiert, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die wenigen Hilfslieferungen, die bislang reingelassen wurden, sind ein Tropfen auf den heißen Stein, Gaza bräuchte derzeit täglich mindestens 700 Lastwagen um die katastrophale humanitäre Lage einigermaßen in den Griff zu bekommen. Schon während der 16 Jahre andauernden Blockade war die Situation besorgniserregend, 500 Lastwagen versorgten täglich den Gazastreifen. Was derzeit in Gaza mit Unterstützung und Billigung vieler westlicher Regierungen passiert, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.  

Wie erleben deine palästinensischen Kolleg*innen den Krieg?

Wir haben ein Teammitglied, das in Gaza wohnt. Sie weiß nicht, ob sie den Krieg überleben wird. Wir sind in großer Sorge und versuchen, täglich Kontakt zu halten. Unsere palästinensischen Kolleg*innen in der West Bank sind gezwungen, Tag für Tag den Krieg auf den Bildschirmen mitzuerleben, ohne etwas tun zu können.

Seit Beginn des Krieges sind mehr als 6.000 Bomben auf Gaza, eines der dicht besiedelten Gebiete der Welt, abgeworfen worden. Zum Vergleich, die USA warfen weniger Bomben pro Jahr in Afghanistan ab. Wenn keine Unterscheidung zwischen Zivilist*innen und Kämpfer*innen oder Soldat*innen im Krieg gemacht wird, ist dies eine Verletzung des internationalen Rechts. Das Flächenbombardement deutet auf eine systematische Zerstörung der Palästinenser*innen und der palästinensischen Gesellschaft im Gazastreifen hin.

Andererseits wird im Schatten der Bombardierungen von Gaza die militärische Besatzung in der West Bank ausgeweitet. Seit dem 7. Oktober sind fast 5.000 Palästinenser*innen verhaftet worden und unter menschenunwürdigen Bedingungen in israelischen Gefängnissen untergebracht worden. Die Versorgung mit Strom, Nahrung und Wasser wird für die Gefangenen auf ein Minimum reduziert oder ganz eingestellt, Gefangene sind massiver Gewaltausgesetzt wie Angehörige und Menschenrechtsorganisationen berichten.

Häuserzerstörungen und Vertreibungen werden fortgesetzt. Es gibt unzählige Straßensperren, die Menschen können sich nicht mehr frei bewegen. Die Angriffe, die Gewalttaten der Siedler*innen gegen Palästinenser*innen nehmen täglich zu. Es ist ein zunehmender Einsatz von Schusswaffen zu beobachten. Seit dem 7. Oktober gibt es auf der West Bank 102 tote Palästinenser*innen durch Militär und Siedlergewalt.

Für viele Palästinenser*innen ist der deutsche Diskurs, der aus verschiedenen Gründen primär die israelische Sichtweise in den Blick nimmt, schwierig nachzuvollziehen und schmerzlich. Wie gehst du als Büroleiterin mit dieser Herausforderung um?

Einer meiner Aufgaben ist es, eine erklärende Brücke zu sein. Die meisten Palästinenser*innen können das besondere Verhältnis zwischen Israel und Deutschland nachvollziehen. Was sie kritisieren, sind die Doppelstandards der deutschen Regierung z.B. hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen oder Widerstand.

Wie stellst du dir die Zeit nach dem Krieg vor? Welche Herausforderungen kommen auf euch und eure Arbeit zu?  

Ganz ehrlich – mir fehlt dazu gerade die Vorstellungskraft. Momentan kann ich nur sagen: Der Krieg muss sofort mit einer Waffenruhe gestoppt werden, es braucht die Bildung und Sicherung eines humanitären Korridors, die Kollektivstrafe für Palästinenser*innen muss gestoppt werden. Wenn dieser ganze Wahnsinn einmal vorüber ist, braucht es eine internationale Untersuchung aller Kriegsverbrechen. Last but not least: Siedlerkolonialismus und eine illegale Besatzung bringen keine Sicherheit für alle Menschen in Israel und Palästina und in der ganzen Region. Deshalb ist es eine logische Konsequenz für alle Staaten, die sich um die Sicherheit sorgen, sich gegen militärische Lösungen auszusprechen und Waffenlieferungen zu stoppen und sich für ein Ende der Besatzung einzusetzen. Viele Palästinenser*innen gehen davon aus, dass ein gemeinsames Leben in Würde, mit gleichen Rechten und Freiheiten – für alle – möglich ist.