Nachricht | Golfstaaten - Israel - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina Die Rolle der Huthis im Palästinakonflikt

Interview mit Oliver Wils, Leiter des MENA-Departments der Berghof Foundation

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Oliver Wils, Katja Hermann,

Ein Jemenit, der auf einem Boot sitzt, filmt mit einem Mobiltelefon das Frachtschiff Galaxy Leader, das von den Houthis vor dem Hafen von Al-Salif am Roten Meer in der Provinz Hodeidah, Jemen, am 19. November 2023 beschlagnahmt wurde.
Das Frachtschiff Galaxy Leader wurde am 19. November 2023 im Roten Meer von den Huthis als Vergeltung für die israelischen Luftangriffe auf den Gazastreifen beschlagnahmt und in die Nähe des jemenitischen Hafens Al-Salif umgeleitet, wie die Huthis mitteilten. Hafen von Al-Salif am Roten Meer in der Provinz Hodeidah, Jemen, 5.12.2023, picture alliance / EPA | YAHYA ARHAB

Seit dem 7. Oktober 2023 kommt es wiederholt zu Raketen- und Drohnenangriffen der jemenitischen Huthi-Bewegung auf Israel. Zudem wurde in der jemenitischen Meerenge, Bab al-Mandab, ein Schiff, die Galaxy Leaders, entführt, das Verbindungen zu Israel hat. Weitere Schiffe wurde angegriffen. Katja Hermann, Leiterin des Westasienreferates der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sprach mit Dr. Oliver Wils über die Huthi-Bewegung und ihr Blick auf Israel und Palästina und inwiefern ihr Eingreifen in den Krieg eine Regionalisierung des Krieges bedeuten kann.
 

Katja Hermann: Wie wird die Palästina-Frage im Jemen diskutiert, und insbesondere unter den Huthis?

Oliver Wils: In der jemenitischen Gesellschaft gibt es eine lange Tradition der Palästinasolidarität. Auch die jemenitischen Regierungen vor und nach der Wiedervereinigung 1990 haben sich in der Regel pro-palästinensisch positioniert. Insofern ist es keine große Überraschung, dass Ansar Allah, wie die Huthi-Bewegung offiziell heißt, diese vorrangig emotionale Bindung schon frühzeitig für die eigene Mobilisierung genutzt hat. Der politische Slogan der Bewegung beschwört deshalb neben dem Tod für Amerika und Israel auch die Verfluchung der Juden und Jüdinnen. In Anbetracht der Tatsache, dass der Israel-Palästina-Konflikt in geographischer, kultureller und politischer Hinsicht weit entfernt, mehr als 2000 km, stattfindet, werden hier populäre Ressentiments bewusst für die «eigene Sache» instrumentalisiert.

Dr. Oliver Wils ist Leiter des MENA-Department der Berghof Foundation. Seit 2012 beschäftigt er sich mit dem Jemen und führt mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes und des Schwedischen Außenministeriums Dialogworkshops mit jemenitischen Politiker*innen und Golfakteur*innen durch.  

Die Huthi-Bewegung setzt sich neben traditionalistischen Gruppierungen, die sich auf das jahrhundertealte vorrepublikanische Imamat und die dominante Stellung der Haschemitenfamilien beziehen, auch aus revolutionären Kräften und einem ideologischen islamistischen Kern zusammen. Vor allem von den beiden letzteren Komponenten wird der Palästina-Konflikt sowohl als religiöser Konflikt als auch als Teil des regionalen Widerstands gegen Israel und darüber hinaus gegen die USA gesehen.

Die Huthi-Bewegung schießt Raketen und Drohnen in Richtung Israel und hat seit dem 7. Oktober mehrere Schiffe angegriffen. Wie sind diese Aktivitäten zu erklären, diese neue Front, wo sie sich doch selbst in einem zermürbenden Krieg befindet?

Die Huthi-Bewegung ist eine relativ neue Kraft. Ursprünglich in den 1990er Jahren als Reaktion der Zaiditen (eine moderate schiitische Gruppierung im Norden des Jemen, die etwa 40 Prozent der jemenitischen Gesamtbevölkerung stellt) auf ihre vermeintliche politische und kulturelle Ausgrenzung initiiert, formierte sich Ansar Allah als schlagkräftige Widerstandsbewegung in den Jahren von 2004 bis 2010 im Rahmen von kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Regime des damaligen jemenitischen Machthabers Ali Abdallah Al-Saleh. Nach einem gescheiterten Versuch, die Probleme des Landes durch Verhandlungen und einen Nationalen Dialog in den Griff zu bekommen, haben sich die Huthis dann 2015 mit dem mittlerweile abgesetzten Machthaber Al-Saleh zusammengetan und im Zuge des nun entbrannten Jemenkriegs (in den auch Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – VAE – involviert waren) weite Teil des Nordens unter ihre militärische Kontrolle gebracht.

Im Zuge des Krieges hat die Huthi-Bewegung die Techniken asymmetrischer Kriegsführung unter Zuhilfenahme der ihr zur Verfügung stehenden Waffensysteme in einem beachtlichen Ausmaß weiterentwickelt. Dabei standen ihr ziemlich sicher auch Expert*innen aus dem Libanon und dem Iran zur Seite. In der Folge haben die Huthis mehrfach bewiesen, dass ihre Raketen- und Drohnensysteme Ziele in Saudi-Arabien und den VAE recht präzise treffen können. Des Weiteren haben die Huthis seit Längerem damit gedroht, dass sie auch die militärischen Mittel und die politische Entschlossenheit dazu hätten, die Situation weiter eskalieren zu lassen, in dem sie auch den international sehr bedeutsamen Seeweg in der Meerenge des Bab Al-Mandab in den Jemenkonflikt einbeziehen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass weder die genutzte Waffentechnologie noch die Tatsache, dass die Huthis nun internationale Schiffe ins Visier nehmen, wirklich überraschend sind. Interessant ist aber der Zeitpunkt der Eskalation, da die Zeichen im Jemenkrieg nach monatelangen bilateralen Verhandlungen zwischen den Huthis und Saudi-Arabien eigentlich auf eine Entspannungspolitik hinweisen. Und in der Tat ist ein im April 2022 für sechs Monate geschlossener Waffenstillstand im Land bis heute in Kraft, obwohl er offiziell seit 14 Monaten abgelaufen ist. Aber vielleicht liegt in der zunehmenden Unzufriedenheit vieler Jemenit*innen und auch vieler Huthi-Anhänger*innen und Sympathisant*innen über den langen Zustand des «No-War – No-Peace» einer der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, warum die Eskalation gerade jetzt stattfindet. Die regionale Eskalation bietet der Huthi-Führung eine Gelegenheit, auch gegenüber Kritiker*innen in den eigenen Reihen Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit zu demonstrieren und die zunehmend massiver auftretenden internen Rufe nach (regelmäßigen) Gehaltszahlungen und verbesserten Dienstleistungen Einhalt zu gebieten.

Zugleich stellen die Angriffe auf Israel aber auch eine doppelte Botschaft dar: Zum einen an Saudi-Arabien: «Nehmt uns ernst! Mit uns ist nicht zu spaßen!» Zum anderen aber auch an den Iran: «Wir verhandeln zwar mit Saudi-Arabien, sind aber weiterhin Teil der Achse des Widerstands».

Was sind die Beweggründe der Huthis für das Kapern, die Entführung eines Schiffes, das nur über weite Ecken Bezug zu Israel zu haben scheint? Ein Versehen?

Es kann natürlich nicht ganz ausgeschlossen werden, dass das Kapern der Galaxy Leaders auf unvollständigen Informationen beruhte. Ich glaube aber, dass die Besetzung des Schiffs seinen Zweck sehr gut erfüllt hat. Es gibt einen Bezug zu einem israelischen Anteilseigner, gleichzeitig handelt es sich aber formal nicht um ein «israelisches» Schiff. Damit ist es für alle Seiten einfacher, über das Schiff zu verhandeln und einen gesichtswahrenden Kompromiss zu ermöglichen. Dies passt auch zu dem sonstigen Gesamtbild, welches m.E. eher einer kontrollierten Eskalation entspricht. Die Raketen, die losgeschickt wurden, konnten relativ gut abgefangen werden, es gibt zudem unbestätigte Berichte, wonach unmittelbar vor dem Abfeuern der Raketen über den Abschuss informiert wurde.  

Welche Rolle spielt Iran bei den gegenwärtigen militanten Aktivitäten der Huthis gegenüber Israel? 

Es ist schwer zu sagen, ob es hier eine direkte Rolle des Iran gibt. Es passt einerseits gut ins Bild. Als Führungsmacht der Achse des Widerstands sieht sich der Iran gezwungen, auf den Krieg in Gaza zu reagieren. Gleichzeit scheint es momentan kein Interesse an einer regionalen Eskalation zu geben, wie die bislang begrenzte Eskalation auch an der israelisch-libanesischen Grenze zeigt. Die Aktionen der Huthis dürften demnach durchaus im Interesse des Iran liegen. Auf der anderen Seite haben die Huthis wiederholt signalisiert, dass sie unabhängig vom Iran handeln können. Es ist also durchaus möglich, dass  die Huthis auf Grundlage ihrer eigenen Ideologie und, wie bereits gesagt, aus innenpolitischem Kalkül heraus handeln.

Inwieweit bedeutet die Beteiligung am Raketenbeschuss auf Israel und die Schiffsentführung eine Parteinahme für die Hamas? Oder anders gefragt: Wie steht die Huthi-Bewegung zur Hamas?  

Für die Huthis stellt Hamas eine in ihren Augen legitime nationale und religiöse Widerstandsbewegung dar. Beide Organisationen sehen sich auch als Teil der Achse des Widerstands. Deshalb ist es naheliegend, dass Ansar Allah die Hamas politisch und auch militärisch unterstützt. Auf der anderen Seite ist das Verhältnis zur Hamas sicherlich kein einfaches. Im Jemen bekämpft die Huthi-Bewegung die Islah-Partei, die zumindest in Teilen der regionalen Muslimbruderschaft nahesteht, die wiederum die Mutterpartei der Hamas ist.  

Die Huthis führen seit längerem Verhandlungen zur Beendigung des Krieges mit Saudi-Arabien, und der ausgehandelte Waffenstillstand hält mittlerweile seit rund eineinhalb Jahren. Inwieweit schwächen ihre Aktionen gegen Israel ihre Position gegenüber Saudi-Arabien?  

Ohne Zweifel spielen die Huthis ein riskantes Spiel. Abgesehen von dem Beschuss von Eilat und Negev wird die bisherige Eskalation auf den internationalen Seewegen von Saudi-Arabien und den USA sehr kritisch gesehen. In den USA wird deshalb auch wieder laut über die Möglichkeit eines erneuten Listings der Huthis als Terrororganisation nachgedacht. In dieser Hinsicht könnten die Aktionen der Huthis ihre Verhandlungsbemühungen mit Saudi-Arabien, die seit einem Jahr sehr intensiv stattgefunden haben, unterlaufen. Es scheint zwar als hätten Saudi-Arabien und die Huthis die grundlegenden Fragen seit einiger Zeit geklärt, aber Saudi-Arabien dürfte es momentan schwerfallen, gegen den Willen der USA eine Verhandlungslösung zu verkünden und den Huthis eine damit verbundene Legitimität zu gewähren.

Auf der anderen Seite sind die Möglichkeiten, eine Organisation wie die Huthis über Listings oder sonstige Sanktionen zum Einlenken zu bewegen, sehr begrenzt. Und ein punktuelles militärisches Eingreifen von Seiten der USA oder Israels wäre möglicherweise auch kontraproduktiv und könnte sogar zur weiteren Popularitätssteigerung der Organisation in der Region beitragen. Deshalb könnte sich über kurz oder lang doch die Erkenntnis durchsetzen, dass eine Verhandlungslösung mit den Huthis, die der Organisation eine ganze Reihe von finanziellen und legitimatorischen Zugeständnisse gewährt, die beste Strategie ist, um das Land und die Region zu stabilisieren.