Nachricht | Geschichte Von Ramsey MacDonald zu Keir Starmer?

Vor 100 Jahren kommt die erste Labour-Regierung in Großbritannien ins Amt

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Florian Weis,

Titelseite der Tageszeitung «Daily Herald» vom 23. Januar 1924

Sicher ist in der Politik in den Staaten Europas (und darüber hinaus) derzeit wenig. Dennoch wäre es nachgerade eine Sensation, wenn es den seit fast 14 Jahren regierenden britischen Konservativen, die diesem Namen immer weniger gerecht werden, innerhalb der nächsten zwölf Monate noch gelänge, einer schweren Wahlniederlage zu entgehen. Damit rückt eine Labour-Regierung näher, spätestens im Januar 2025, wahrscheinlich aber im Herbst 2024. Es wäre nicht nur die erste sozialdemokratische Regierung seit 2010, sondern überhaupt erst die siebte in der britischen Geschichte, nach 1924, 1929-1931, 1945-1951, 1964-1970, 1974-1979 und zuletzt 1997-2010. Nur selten gelang es der Labour Party, stabile parlamentarische Mehrheiten zu erringen: 1945 unter Clement Attlee, 1966 unter Harald Wilson, 1997, 2001 und 2005 unter Tony Blair. Ob sich Keir Starmer hier einreihen kann, bleibt abzuwarten. Knappe Mehrheiten im Unterhaus oder sogar Minderheitenregierungen sind für die Labour Party nicht ungewöhnlich: 1924, 1929-1931, 1950-1951 1964-1966 und 1974-1979 hatten die Labour-Regierungen nur knappe oder gar keine Mehrheiten. Die erste Labour-Regierung unter Ramsay MacDonald (1866–1937), die vor 100 Jahren, am 22. Januar 1924, ins Amt kam, war eine solche Minderheitsregierung. Sie überstand kein volles Jahr im Amt und konnte wenige unmittelbare Erfolge verbuchen, leistete aber einen wichtigen Beitrag dafür, dass Labour zur zweiten politischen Kraft neben den Konservativen wurde.

Der Erste Weltkrieg und der Aufstieg der Labour Party

Die Labour Party entstand 1900 und 1906 als Wahlbündnis aus kleineren sozialistischen Gruppen und, entscheidender, vielen Gewerkschaften. Der Einfluss der Gewerkschaften auf die Labour Party blieb für viele Jahrzehnte wesentlich ausgeprägter als in anderen europäischen Parteien der Arbeiter:innenbewegung. Den Gewerkschaften ging es zunächst darum, der Liberalen gegenüber selbstbewusster auftreten zu können, indem sie eigene Abgeordnete in das Unterhaus brachte. Gleichzeitig kooperierten die Gewerkschafts-gestützten Labour-Abgeordneten auch weiterhin mit der weitaus größeren Liberalen Partei.

Der Erste Weltkrieg verschob die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen schrittweise und evolutionär, aber durchaus tiefgreifend und dauerhaft. (Erstens) bewirkten der Druck der – politisch durchaus heterogenen, von konservativen und national-patriotischen bis linken Persönlichkeiten reichenden - Suffragetten-Bewegung und die allgemeinen Folgen der industriellen Mobilisierung von Frauen für die Kriegswirtschaft, dass Frauen in zwei Schritten 1918 und 1928 das passive und aktive Wahlrecht erhielten, das, ebenfalls in mehreren Schritten, bis 1884 für alle Männer, auch besitzlose Arbeiter, erkämpft worden war. (Zweitens) hatte sich die Liberale Partei ab 1916, als David Lloyd George seinen Parteikollegen Herbert Asquith als Premierminister der Kriegskoalition verdrängt hatte, mehrfach gespalten. (Drittens) bestand nicht nur das Elend in den Slums des Londoner East Ends und anderer Städte fort, es zeichnete sich bald ab, dass die «goldenen Jahre» des britischen Kapitalismus der Vergangenheit angehörten. (Viertens) blieb die versprochene materielle Anerkennung für die Opfer der Frontsoldaten und ihrer Angehörigen (fast eine Million Soldaten aus Großbritannien, Irland, den Dominions und dem Empire waren umgekommen, viele weitere schwer verwundet und traumatisiert) aus, wurde das Versprechen eines «country fit for heroes» gebrochen. Große Streikwellen zwischen 1919 und 1921 waren eine Reaktion auf die sozialen und ökonomischen Probleme, auch wenn sich diese Linie einer gewerkschaftlichen Militanz innerhalb der Arbeiter:innenbewegung letztlich nicht durchsetzen konnte. Parallel dazu gruppierte sich die politische Linke in Großbritannien um. Die Kommunistische Partei entstand und konnte einen gewissen Einfluss in den Gewerkschaften gewinnen, blieb bei Wahlen aber, auch dem Mehrheitswahlrecht geschuldet, überwiegend schwach. Eine Reihe von Liberalen wechselten nach dem Ersten Weltkrieg, oft von ihrer Ablehnung dieses Krieges getrieben, zur Labour Party. Dieses liberal-progressive Element verbreiterte die soziale und kulturelle Basis der Partei und beeinflusst auch inhaltliche Positionen, etwa zu Gunsten des Freihandels und gegen den Protektionismus.

Es gelang der Labour Party, die tiefen Gräben, die sich in der Frage der Unterstützung oder Ablehnung der britischen Kriegsbeteiligung aufgetan hatten, zu überwinden. Es handelte sich dabei auch nicht um eine klassische «links-rechts»-Trennlinie innerhalb der Arbeiter:innenbewegung. So waren etwa die Ramsay MacDonald und sein Schatzkanzler Philipp Snowden (1864-1937) entschiedene Kriegsgegner, aber auch äußerst moderate Labour-Politiker. MacDonald bewies mit seiner Ablehnung der britischen Kriegsbeteiligung, wie immer diese vor dem Hintergrund der deutschen Expansionspolitik auch zu bewerten sein mag, großen Mut angesichts einer vielfach nationalistisch aufgeheizten Stimmung. Dies verlieh ihm in den 1920er Jahren ein erhebliches moralisches Gewicht. Nachdem die Parteiführung mehrfach gewechselt hatte, übernahm MacDonald sie Ende 1922 wieder und behielt sie bis 1931, obgleich er von Teilen der Partei wegen seiner kompromissbereiten Politik und mehr noch seiner Neigung, sich auch in Zirkeln der Aristokratie zu bewegen, kritisch beäugt wurde. Der Schotte MacDonald, uneheliches Kind einer Hausangestellten und eines Landarbeiters, was damals als Makel angesehen und zeitweilig auch politisch gegen ihn verwendet wurde, gehörte neben Arthur Henderson (1863-1935) und dem in Kreisen der Arbeiter:innenbewegung legendären Keir Hardie (1856-1915; nach ihm ist Keir Starmer benannt) zu den prägenden Labour-Politikern der Gründungszeit. Er stand für einen evolutionären Weg der Sozialreformen innerhalb des britischen Parlamentarismus, damals als «Gradualism» bezeichnet.

Ein strategischer Schritt: Ramsay MacDonalds erste Labour-Regierung 1924

Ohne rechte Not hielt der konservative Premierminister Stanley Baldwin (1867-1947), der dieses Amt bis 1937 noch mehrfach bekleiden sollte, im Dezember 1923 Neuwahlen ab. Die Labour Party hatte ihren Stimmenanteil 1918 und 1922 langsam erhöht. Die Wahlen 1923 führen zu nur geringen Verschiebungen in der Stimmenverteilung – minimalen Verlusten der Konservativen (rund 38 Prozent der Stimmen) standen geringe Zugewinne der Liberalen und der Labour Party (jeweils rund 30 Prozent der Stimmen) gegenüber. Das britische Mehrheitswahlrecht führte aber zu einem Verlust der parlamentarischen Mehrheit der Konservativen und zu Mandatsgewinnen für sowohl Labour als auch die Liberalen; der einzige kommunistische Abgeordnete verlor sein Mandat. Die Labour Party hatte bereits 1922 die Liberalen nach Stimmen und Sitzen überflügelt, doch war keineswegs ausgemacht, dass dies von Dauer sein würde. In dieser Situation entschieden sich die immer noch fragmentierten Liberalen dazu, der Labour Party, die mehr Sitze (191 zu 158) gewonnen hatte, aber deutlich schwächer als die Konservativen (258 Sitze) war, die Möglichkeit einer Minderheitsregierung einzuräumen. Teile der rechten Presse und der Oberschichten reagierten geradezu hysterisch. Baldwin, ein moderater, ausgleichender und verantwortungsbewusster Konservativer, wie es sie in der gleichnamigen Partei heute kaum noch gibt, schloss sich der antisozialistischen Hysterie in Teilen der herrschenden Schichten nicht an, letztlich auch nicht König Georg V., der MacDonald den Auftrag zur Regierungsbildung erteilte, so dass MacDonald am 22. Januar 1924 erster Labour-Premierminister wurde.

Die Liberalen sahen sich ideologisch und politisch-kulturell weiter von den Tories als von Labour entfernt und unterschätzten zudem die längerfristigen Folgen der Unterstützung einer Labour-Regierung. Nicht die Konservativen wurden so nachhaltig geschwächt, vielmehr konnte Labour sich nunmehr als die Hauptalternative zu den Konservativen profilieren und die Liberalen in dieser Funktion ablösen. Genau dies hatte MacDonald im Sinn, als er die Chance zur Regierungsbildung ergriff. Ihm ging es darum, Labour als eine verantwortungsbewusste, konstruktive und kompetente Kraft zu präsentieren, die so weiter wachsen und irgendwann auch eine Mehrheit aus eigener Kraft gewinnen sollte. Gerade einmal neun Monate blieb die Regierung von MacDonald im Amt, ehe die Liberalen ihre Unterstützung entzogen und es zu Neuwahlen kam. Antikommunismus spielte dabei eine wichtige Rolle und prägte auch den folgenden Wahlkampf. Berüchtigt wurde der sogenannte Sinowjew-Brief, der beweisen sollte, dass die UdSSR in Großbritannien einen kommunistischen Aufstand vorbereiten wollte. Der Brief war eine Fälschung und die Labour-Führung weit von den Kommunisten entfernt, doch hatte die Kampagne kurzfristig ihre Funktion erfüllt.

Die absehbar kurzlebige Labur-Regierung, in der MacDonald gleichzeitig auch Außenminister war, hatte einige Akzente setzen können. So nahm sie diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion auf und verhandelte auch über Handels-, Kredit- und weitere wirtschaftliche Abkommen. Darüber hinaus brachte sich Großbritannien unter MacDonald ausgleichend in die Reparationsverhandlungen mit Deutschland ein, unterstützte den Völkerbund und trug zur Entspannung zwischen Deutschland und Frankreich bei. Innenpolitisch wurden ein Gesetz zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus und kleine Verbesserungen der Leistungen für Arbeitslose beschlossen. Angesichts der fragilen parlamentarischen Lage, fehlender Regierungserfahrungen und der aggressiven Gegnerschaft von Teilen der Presse und der Oberschichten waren dies keine unbedeutenden Leistungen. Vor allem aber war MacDonalds Kalkül aufgegangen, Labour als die alternative Regierungskraft zu den Konservativen ins Bewusstsein zu heben. Zwar verlor die Labour Party bei den Neuwahlen ein gutes Fünftel ihrer Mandate, ihr Stimmenanteil stieg aber weiter auf nunmehr 33 Prozent an, während der liberale Wähler:innenanteil massiv einbrach. Die Konservativen unter Baldwin kehrten an die Regierung zurück. 1929 sollte Labour seinen Stimmenanteil nochmals auf über 37 Prozent steigern und erstmals mehr Unterhaussitze als die Konservativen gewinnen können. In der Folge kam die zweite Labour-Minderheitsregierung ins Amt. Sie zerbrach im Sommer 1931 an den Folgen der Weltwirtschaftskrise und zerstörte das Ansehen Ramsay MacDonalds in der Arbeiter:innenbewegung auf Dauer, brach er im August 1931 doch mit der Mehrheit seiner Partei und führte künftig als Premierminister eine «nationale Regierung», in der die Konservativen dominierten. MacDonalds Verrat, so wurde er auf der Linken unisono betrachtet, blieb das große Trauma der Labour Party für viele Jahrzehnte. Doch überlebte die Partei, trotz einer katastrophalen Niederlage bei den Wahlen 1931, als Hauptkonkurrent der Konservativen, trat 1940 geschlossen in das Kriegskabinett ein, trug wesentlich zu Großbritanniens Überleben gegen Nazi-Deutschland bei und errang 1945 den wichtigsten Wahlsieg ihrer Geschichte. Premierminister wurde Clement Attlee (1883-1967), der 1924 als Staatssekretär der ersten Labour-Administration angehört hatte.