Nachricht | Rassismus / Neonazismus - Cono Sur - Andenregion - Brasilien / Paraguay - Kampf gegen Rechts - Autoritarismus Die autoritäre Rechte in Lateinamerika

Eine neurechte Welle schwappt über den Subkontinent. Die Prägung durch koloniale Vergangenheit erleichtert das rückwärtsgewandte Vorhaben von Rechtspopulisten und starken Männern

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Andreas Behn,

Jair Bolsonaro, ehemaliger Präsident Brasiliens,  umarmt den neuen chilenischen Präsidenten Javier Milei bei dessen Amtseinführung am 10.12.2023. Beide sind die bisher wichtigsten Protagonisten der rechtsautoritären Wende in Lateinamerika. Foto: IMAGO / ABACAPRESS

Lateinamerika ist ein fruchtbarer Boden für rechtsextreme, rechtspopulistische und autoritäre Bestrebungen. Selbsternannte starke Männer beschwören eine angebliche kommunistische Gefahr sowie den Verlust traditioneller Werte und nutzen die etablierten aber oft fragilen Demokratien als Sprungbrett zur Machtübernahme. Die sehr konservativen Eliten, extreme Ungleichheit und das zumeist christlich geprägte Familienbild schaffen eine rückwärtsgewandte Ausgangslage, die diesen Bestrebungen Rückhalt gibt. Inzwischen hat diese neurechte Welle in fast allen Ländern des Subkontinents großen Einfluss gewonnen und baut diesen trotz vieler lokaler Unterschiede mittels aktiver Vernetzung aus. Die Linke wie auch Parteien der demokratischen Mitte tun sich schwer, Rezepte gegen die rechtsextremen Tendenzen zu entwickeln. Viele Wahlen der letzten Jahre waren ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen eher demokratisch und autoritär orientierten Kanditat*innen, ähnlich wie in den USA und zahlreichen Ländern Europas.

Brasilien: Eine religiös-politische Allianz

Andreas Behn ist Journalist und Soziologe, lebt seit 2005 in Brasilien, war Korrespondent der taz, des epd und des ND, arbeitet zu den Schwerpunktthemen Regionalpolitik Lateinamerika sowie internationale Klimapolitik und leitet seit Mitte 2022 das RLS-Büro in São Paulo.

Der bislang wichtigste Meilenstein dieser Entwicklung war die Wahl des rechtsextremen Politikers Jair Bolsonaro zum Präsidenten Brasiliens im Jahr 2018. Der überraschende Wahlsieg des langjährigen Hinterbänklers im brasilianischen Parlament war nicht Ergebnis jahrelanger politischer Aufbauarbeit, sondern der letzte Akt eines erbitterten Machtkampfes zwischen der linksorientierten Arbeiterpartei PT und traditionellen konservativen Parteien. Dieser führte nach 16 Jahren PT-Regierung zur Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff und wenig später zur Inhaftierung des Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. Die Hoffnung der Konservativen, nach diesem Triumph die nächsten Wahlen endlich wieder zu gewinnen, erwies sich als fataler Trugschluss: Der Kandidat der einst wichtigsten konservativen und unternehmerfreundlichen Partei PSDB kam auf nicht einmal fünf Prozent der Stimmen, während der PT-Kandidat immerhin die Stichwahl erreichte, wo er dann Bolsonaro deutlich unterlag.

Der Rückblick auf diese dramatische Episode zeigt einige Elemente und Tendenzen, die bis heute für die Ausbreitung autoritärer Positionen in der gesamten Region ausschlaggebend sind. Die Diskreditierung von Politik und des etablierten Parteiensystems ging nicht auf rechtspopulistische Hassreden zurück, sondern war Folge des verzweifelten Versuchs von im Prinzip demokratischen Politiker*innen und der konservativen Massenmedien, die PT-Regierung mit allen erdenklichen Mitteln zu verteufeln. Nach dieser Vorarbeit brauchte Bolsonaro nur wenige Wochen vor der Wahl, um mittels Fakenews-Kampagnen insbesondere im Messengerdienst WhatsApp genügend Verunsicherte davon zu überzeugen, dass Brasilien seine starke Hand brauche, um nicht unterzugehen. Ein weiteres Element, das nur Bolsonaro, aber nicht der gemäßigten Rechten nutzte, was eine Wirtschaftskrise, die 2015 ausbrach. Der Abschwung war in Teilen von Rousseff zu verantworten, wurde aber von der Opposition weidlich ausgeschlachtet und vom konservativen Kongress mit fragwürdigen Initiativen noch zusätzlich angefeuert. Millionen eher ärmere Menschen, die zuvor von der PT-Sozialpolitik profitierten und teilweise durchaus einen sozialen Aufstieg verzeichneten, wandten sich ab und wechselten in das Bolsonaro-Lager, dessen bloße Versprechen offenbar mehr Perspektive anboten.

Sinnbild dafür war, dass im Alltag immer mehr Neuwagen mit diesem Aufkleber zu sehen waren: «Den hat mir Jesus gegeben!» Obwohl es fraglos Lulas Wirtschafts- und Sozialpolitik zwischen 2003 und 2010 war, die den Hunger in Brasilien beendete und den sozialen Aufstieg von Millionen ermöglichte, wird dieser Verdienst plötzlich einem Glauben und einer bestimmten religiösen Ausrichtung gutgeschrieben. Und zwar den evangelikalen Pfingstkirchen, die im Gegensatz zu Bolsonaro jahrzehntelange Aufbauarbeit geleistet haben, insbesondere unter den Ärmsten Vertrauen aufgebaut haben und neben einem sehr traditionellen Familienbild auch ein individualistisches Konzept für wirtschaftlichen Erfolg propagieren. Die religiös-politische Allianz der Pfingstkirchen, den wertkonservativen Teile der katholischen Kirche und des eher profanen Umfelds von Bolsonaro – selbst Katholik, der sich 2016 von einem evangelikalen Pastor am Jordan taufen ließ – war wahlentscheidend, da sie just die Stammwählerschaft von Lula durcheinanderbrachte.

Das lautstarke Pöbeln von Bolsonaro, seine rassistische und frauenfeindliche Hetze und die Farce seines Anti-Eliten Diskurses verfingen, weil die seit den 1990er Jahren mühsam erarbeitete demokratische Stabilität in Frage gestellt war. Verunsicherungen und neue Ungleichheit, Krisen und neue Heilsversprechen bildeten eine Konstellation, die Experimente und einen kulturellen Umbruch in Richtung Vergangenheit erlaubte. Hinzu kam der internationale Kontext. Das Vorbild Trump, aber auch der Brexit und andere rechtspopulistische Tendenzen weltweit führten auch im eher abgelegenen Brasilien dazu, dass ein abgehalfterter Ex-Militär, den seine Anhänger*innen als «Mythos» bejubeln, auf einmal Staatsoberhaupt wird. Dass dies in der Regionalmacht passiert, die auch kulturell und im Fußball – Ex-Star Neymar machte unumwunden Wahlkampf für Bolsonaro – vielen als Vorbild dient, hatte Signalwirkung in ganz Lateinamerika.

Argentinien: Politik mit der Kettensäge

Ein weiteres Beispiel für einen starken Mann, der fast aus dem nichts zur polemisierenden Figur bei den Wahlen Ende 2023 aufstieg und dann überraschend Präsident wurde, ist Javier Milei im Nachbarland Argentinien. Sein überheblicher Diskurs, gespickt mit Hasstiraden und Ausgrenzungen, lässt Bolsonaro geradezu als gemäßigt erscheinen. Unterlegt ist dieser Diskurs vom Rattern seiner symbolischen Kettensäge, mit der er das demokratische System und vor allem den dort halbwegs entwickelten Sozialstaat zerlegen will. Wie Bolsonaro kann man ihm keine falschen Versprechen vorwerfen: Kaum im Amt setzt er in Politik und Wirtschaft durch, was er angekündigt hat. Seitdem versinkt Argentinien in einer sozialen Krise mit zunehmender Armut und Hunger, was andererseits von Anhängern liberaler Wirtschaftspolitik als unumgängliche Medizin gefeiert wird, ohne die das einst wohlhabende Land niemals aus der Krise herausfinden würde. Auch Argentinien steckte vor Mileis Aufstieg in einer langwierigen Wirtschaftskrise, die bei vielen insbesondere in ärmeren Schichten zu Perspektivlosigkeit führte. Den zuvor regierenden gemäßigt linken Peronisten gelang es nicht, ein Rezept gegen den Abwärtsstrudel zu entwickeln. Ebenso wenig der konservativen Opposition, die ähnlich wie in Brasilien 2018 zu Teilen das neue autoritäre Regierungsprojekt unterstützt. Eine weitere Parallele: Auch Milei gewann viel Unterstützung just in eher linksgerichteten Segmenten – in den eher armen Bevölkerungsschickten und noch deutlicher bei jungen Wähler*innen, die Milei in ihren sozialen Netzwerken geradezu als Messias anhimmeln.

Ebenfalls im Südkegel (Conosur) Lateinamerikas ereignete sich im Jahr 2021 das dritte Beispiel einer rechtsextremen Mobilisierung, die darauf abzielte, mittels eines Sieges bei demokratischen Wahlen das politische System in Frage zu stellen. Doch in Chile scheiterte der Rechtsextremist José Antonio Cast in der Stichwahl deutlich und erreichte nicht einmal 45 Prozent der Stimmen. Präsident ist der ehemalige Aktivist Gabriel Boric, der – anders als in Brasilien und Argentinien – keine Kontinuität eines kriselnden Politsystems repräsentierte, sondern seinerseits eine neue Option darstellte und damit dem Rechtspopulismus vor allem bei der Jugend eine wählbare Alternative bot. Doch Kast und sein erzkonservatives Umfeld hatten mehr als einen Achtungserfolg errungen. Sie setzten die Mobilisierung ihrer breiten, wachsenden Basis fort, stets mit Bezug auf die Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973-1990) und Themen wie Familienwerte, Wirtschaftsliberalismus und Sicherheit. Schon 2023 wendete er das Blatt, und seine Partei gewann die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung. Eine Reform der noch unter Pinochet geschriebenen chilenischen Verfassung war damit gescheitert.

Die modernen Caudillos

Auch das mittelamerikanische Land El Salvador wird von einem starken Mann autoritär regiert. Nayib Bukele kam bereits 2019 in das höchste Staatsamt und wurde im Februar 2024 mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt. Im Zentrum seiner Regierungspolitik steht ein rabiates Vorgehen gegen Kriminalität und Jugendbanden, die das kleine Land zuvor in eine tiefe gesellschaftliche Krise stürzten. Der Fall ist anders gelagert als die autoritären Tendenzen im Conosur, weist jedoch Parallelen auf. Im Zuge des rechtsstaatlich höchst fragwürdigen Vorgehens gegen Kriminalität, das von Menschenrechtsorganisationen angeprangert aber von der Mehrheit der Bevölkerung gefeiert wird, hat er die Justiz und Teile des politischen Systems unter seine persönliche Kontrolle gebracht. Das Fehlen demokratischer Kontrolle und Bukeles populistischer Diskurs der starken Hand öffnen die Tür für autoritäre Zustände, wie sie auch in Ungarn unter Viktor Orban oder in der Türkei unter Recep Erdogan zu beobachten sind.

In Costa Rica, einem weiteren Land im zentralamerikanischen Isthmus, kam 2022 mit Rodrigo Chaves ein Mann an die Macht, der sich ebenfalls als «Outsider» bezeichnete und davon sprach, «das Haus in Ordnung zu bringen» und die althergebrachte Politik zu beenden. Sein Diskurs ist weniger radikal, aber oft durchsetzt von sexistischen Anspielungen und gespickt mit Kritik an den Eliten und linker Kultur. Da Chavez zugleich als seriöser Ökonom gilt, wird seine Regierung auch als der Versuch interpretiert, rechtspopulistischen Regierungen einen weniger extremistischen Anstrich zu geben.

Starke Männer, die versuchen, durch Wahlen an die Macht kommen, um dann wie zuvor angekündigt die demokratischen Institutionen abzubauen und durch ein rechtsautoritäres Gefüge zu ersetzen, haben in Lateinamerika ein historisches Vorbild. Die sogenannten Caudillos, charismatische, meist volksnahe Führungspersonen, die oft einen militärischen Hintergrund hatten, prägten die Geschichte der gesamten Region. Auch deswegen werden Wahlen, anders als in Europa, oft durch Präferenzen für bestimmte Personen denn für politische oder ideologische Programme entschieden. Dennoch lässt sich in Lateinamerika ein zweites Muster innerhalb der momentanen neurechten Welle identifizieren, das zu einer Ausweitung von autoritären und rechtspopulistischen Tendenzen auf Regierungsebene führt. Dabei handelt es sich um Regierungen und Parteien, die zwar dem traditionellen konservativen oder wirtschaftsliberalen Spektrum entstammen und sich zunehmend des rechten Zeitgeistes bedienen, um ihre Macht abzusichern oder auszuweiten. Eine parallele Entwicklung ist in Europa zu beobachten. Sie reicht von der früheren konservativen Regierungspartei Partido Popular in Spanien, die heute ungeniert mit rechtsextremen Kräften zusammenarbeitet, bis hin zur CDU oder FDP in Deutschland, die angesichts von Rechtsruck und AfD-Erfolgen Positionen des rechten Rands salonfähig machen.

Die Verwandlung des traditionellen Parteienspektrums

Aktuelle Beispiele für die Wendung traditioneller Rechtsparteien oder Koalitionen hin zu rechtsautoritären Positionen sind die Regierungen in Paraguay, Uruguay und auch Ecuador. Die erzkonservative Colorado-Partei, die das Binnenland Paraguay seit Jahrzehnten mit nur einer kurzen Unterbrechung regiert, ist inzwischen in mehrere Fraktionen gespalten. Um seine Macht auch parteiintern zu sichern, setzt Präsident Santiago Peña zunehmend auf rechtspopulistische Diskurse, die sich gegen demokratische Kontrolle und die herbeigeredete Gefährdung christlicher Wertvorstellungen richten. Größtes Feindbild ist der Begriff Gender, obwohl sich in Paraguay der Einsatz für Geschlechterdemokratie seit Jahren in einer geradezu aussichtslosen Defensive befindet.

In Uruguay ist es Präsident Luis Lacalle Pou, der rechtsextremen Positionen die Tür öffnet. Pou selbst entstammt dem traditionellen konservativ-liberalen Parteienspektrum. Bei seinem Wahlsieg 2019 verfehlte er die notwendige Parlamentsmehrheit, um die seit 15 Jahren amtierende linke Frente Amplio abzulösen. So gelangte die rechtsextreme Partei Cabildo Abierto in die Regierungskoalition. Dessen Führungsfigur, der Ex-Militär Manini Ríos, nutzt die Regierungskanäle als Bühne für seinen Kulturkampf gegen links und um die Gräuel der Militärdiktatur zu relativieren. Derweil gefällt sich Pou in der Rolle, lautstark den Gegenpool zu den links-sozialdemokratischen Regierungen in der Region (Brasilien seit 2023, Chile, Kolumbien, Honduras und Mexiko) anzuführen.

Auch Ecuadors Präsident Daniel Noboa repräsentiert das traditionelle Parteienspektrum. Obwohl er sich im Wahlkampf 2023 als mittelinks bezeichnete, ordnen oppositionelle Kräfte seine Äußerungen zu Korruptionsbekämpfung und Liberalisierung der Wirtschaft eher dem rechtspopulistischen Spektrum zu. Kaum im Amt, wird das Andenland von einer Welle der organisierten Kriminalität im Kontext des regionalen Drogenhandels überrollt. Noboas Antwort mit Ausnahmezustand, Einsatz des Militärs und Ausweitung seiner exekutiven Befugnisse erinnern an Bukeles Erfolgsrezept in El Salvador.

Das Erbe des Kolonialismus

Dass lateinamerikanische Gesellschaften einen fruchtbaren Nährboden für rechtsautoritäre Tendenzen bieten, hat historische Gründe. Die Region ist sowohl politisch wie in Bezug auf ihren Wertekodex seit nunmehr 500 Jahren konservativ geprägt. Einerseits aufgrund der sehr gewalttätigen Kolonisierung, die zunächst zur Herausbildung einer unerbittlichen Landoligarchie, später einer Kaste von reichen Familien sowie Familienunternehmen und zuletzt zur Dominanz von Eliten als Stellvertreter US-amerikanischer Interessen führte, deren rückwärtsgewandtes Weltbild in allen Ländern der Region eine extreme soziale Ungleichheit zementierte. Die Mehrheit der Bevölkerung litt unter feudalen Machtverhältnissen oder in den Atlantikregionen unter Sklaverei. Andererseits implementierte der von den iberischen Kolonisatoren importierte Katholizismus konservative Werte und Normen, die bis heute insbesondere in ärmeren Schichten vorherrschende Moral sind. Der zunehmende Einfluss von evangelikalen Pfingstlichen, die sich seit über 40 Jahren von den USA ausgehend über Guatemala und Brasilien inzwischen im gesamten Subkontinent ausbreiten, verstärkt die Hinwendung zu traditionellen Familienbildern und individuellen Heilsvorstellungen zusätzlich.

Rechtsextreme Strömungen und rechtspopulistische Repräsentanten beziehen sich grundsätzlich positiv auf diese Vergangenheit – und wo möglich auch auf die Militärdiktaturen der 70er und 80er Jahre. Rassistische und gender- oder frauenfeindliche Postulate werden in dieser Einordnung zu gottgewollten Postulaten, ebenso wie die Kritik am demokratischen Staat, der sich unbefugt in das Leben der einfachen Menschen einmischt, oder an den globalisierten Eliten, die das Althergebrachte aus dem Lot bringen. Menschenrechte und inzwischen auch simple Arbeitsrechte gelten als Instrumente, mit denen Linke oder Kommunisten die Staaten ins Elend stürzen wollen. Jenseits der üblichen Fakenews setzt die extreme Rechte auch konsequent auf Kulturkampf: Verteufelt werden alle gesellschaftspolitischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte. Sowohl Gleichheit wie Vielfalt gelten als Hindernisse auf dem Weg zurück in die gute alte Zeit.

Die Polarisierung bleibt

Der Blick zurück auf nicht einmal zehn Jahre neurechter Tendenzen in Lateinamerika zeigt ein weitgehend bekanntes Spektrum von Positionen, eine Vielfalt von Wegen und Umwegen zur Erlangung politischer Macht und ein sehr großes Potential, politischen Rückhalt in der Bevölkerung zu erzeugen. Kaum möglich ist es derzeit, rechtsextreme Machterfahrungen in der Region zu bilanzieren. Bukele in El Salvador ist eher ein Sonderfall in einem kleinen Land und Mileis Kettensäge wütet erst seit acht Monaten in Argentinien. Die vier Jahre von Bolsonaro an der Macht in Brasilien geben aber erste Hinweise auf die Frage, ob die neurechte Welle an den Hürden der Regierungsverantwortung bricht.

Brasilien hat die Bolsonaro-Präsidentschaft halbwegs unbeschadet überstanden. Die Institutionen und das demokratische System hielten Stand, es gab auch keine explizite Repressionswelle. Mitbestimmung, demokratische Kontrolle und soziale Errungenschaften wurden deutlich geschwächt, konnten aber nach dem Regierungswechsel schnell wieder auf den Weg gebracht werden. Und so wie Bolsonaro an die Macht kam, wurde er 2022 abgewählt, wenn auch nur mit hauchdünnem Vorsprung. Dies ist nur eine vieler Parallelen zu Trump in den USA: Hier wie dort war die Regierungszeit insofern erfolgreich, als dass jeweils rund die Hälfte der Bevölkerung das rechtspopulistische Modell auch in Zukunft bevorzugt. Beide schufen also eine immense soziale Basis mit teils fanatischem Glauben an die propagierten Leitsätze. Beide protestierten gegen ihre Wahlniederlage mit einem erfolglosen Sturm ihrer Anhängerschaft auf Gebäude demokratischer Institutionen, ohne dass dies den Anstiftern eindeutig schadete. Die Stimmung in beiden Ländern ist polarisiert, teils in einem Ausmaß, dass Freunde und Familien politische Themen wann immer möglich meiden. In Brasilien wie in den USA bereiten sich die beiden Vorreiter rechtspopulistischer Politik darauf vor, sobald wie möglich die Macht wieder zu übernehmen.

Die Parallelen haben schon lange dazu geführt, dass die extreme Rechte internationale Netzwerke aufbaut. Lateinamerikanische Autoritäre orientierten sich dabei in zwei historisch vorgegebene Richtungen: Zur Kolonialmacht Spanien und zum starken Nachbarn im Norden, den USA. Dort hat die Conservative Political Action Conference (CPAC) ihren Sitz, die mit steter Beteiligung des Bolsonaro-Clans regelmäßig Vernetzungstreffen in lateinamerikanischen Metropolen veranstaltet. Gutbetuchte sogenannte Thinktanks sind ein weiteres Vehikel, um rechtsextremes Gedankengut in politische Praxis umzusetzen. In Spanien ist es vor allem die rechtsextreme Partei Vox, die Gleichgesinnte aus Lateinamerika an einen Tisch bringt. Ihre Stiftung namens Disenso prägte den Begriff Iberosphäre, um das einstige Einflussgebiet neu zu definieren. Die Vernetzungen sind sehr zahlreich und schwierig zu überblicken, zumal ständig neue Anknüpfungspunkte entstehen. So rief Mileis Ultraliberalismus zahlreiche Apologeten des Neoliberalismus auf den Plan, insbesondere in Deutschland. Als er im Juni in Hamburg von der durchaus AfD-nahen Hayek-Gesellschaft ausgezeichnet wurde, lobten auch Vertreter des deutschen Liberalismus Mileis Vorhaben, den argentinischen Staat per Kettensäge zurechtzustutzen.

Dass es Lula da Silva im Oktober 2022 gelang, eine zweite Bolsonaro-Amtszeit zu verhindern, ist der bisher größte Erfolg gegen die autoritäre Rechte in Lateinamerika. Sein Wahlsieg zu einer dritten Amtszeit war nicht nur seinem guten Ruf und seinem Charisma geschuldet. Ohne die weitgehende Einigung aller linken Kräfte hinter seiner Kandidatur und ohne seine breite, weit nach rechts reichende Wahlallianz wäre Bolsonaro fraglos der Durchmarsch gelungen. Dieses Szenario stellt linke wie demokratische Kräfte vor eine große Herausforderung in Bezug auf künftige Bündnispolitik. Zudem ist es bisher nicht gelungen, den größten Widerspruch in der rechtspopulistischen Erzählung zu entlarven: Unabhängig davon ob Rechtspopulisten auf Liberalismus oder auf Stärkung der nationalen Wirtschaft schwören, ist ihre Wirtschaftspolitik immer unternehmensfreundlich und gegen staatliche Sozialmaßnahmen – also just gegen die Segmente der Bevölkerung gerichtet, in denen sie entscheidende Stimmenzuwächse verzeichnen. Dementsprechend spannend wird es sein, die Popularität von Milei in den kommenden Jahren zu beobachten.