Rund 70 Personen nahmen am Freitag, den 20. Januar 2012 am zweiten Treffen des Gesprächskreises Gewerkschaften der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Frankfurter Gewerkschaftshaus teil. Haupt- und Ehrenamtliche aus verschiedenen Gewerkschaften, Betriebs-und Personalräte, gewerkschaftsnahe WissenschaftlerInnen sowie Vorstandsmitglieder und Kolleginnen und Kollegen ausder RLS diskutierten über den politischen Streik, informierten sich über die Ergebnisse der Gewerkschaftstage von ver.di und IG Metall und berieten über die weitere Arbeit des Gesprächskreises.
Diskussion über politische Streiks
Im Zentrum des Treffens stand das Thema „Politische Streiks – Europäische Erfahrungen und Strategien für die Diskussion in Deutschland“. Hierzu referierten Prof. John Kelly (University of London), der wohl profilierteste Generalstreikforscher Europas, und Veit Wilhelmy, Gewerkschaftssekretär bei der IG BAU, Autor verschiedener Publikationen und engagierter Streiter für das Thema „Politische Streiks“. John Kelly sprach über „Politische und Generalstreiks in Westeuropa: Überblick und Einschätzungen zur Wirksamkeit eines gewerkschaftlichen Kampfmittels“ und stellte dabei die Ergebnisse seiner jahrelangen Forschungen vor. Während bei den ökonomischen Streiks seit den 1970er Jahren ein kontinuierlicher Niedergang der Streikzahlen zu beobachten ist, verhält es sich bei den Generalstreiks genau andersherum: Zwischen Januar 1980 und Dezember 2008 kam in den westeuropäischen Ländern zu insgesamt 85 politischen Generalstreiks. Dabei ist die Tendenz eindeutig steigend: von 18 in den 1980ern über 29 in den 90ern auf 38 zwischen 2000 und 2008. Nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise durch die Lehman-Brothers-Pleite im September 2008 kam es 2009 zu weiteren 4 Generalstreiks in Europa, womit sich die Zahl für die letzte Dekade auf 42 und die Gesamtzahl an Generalstreiks zwischen Januar 1980 und Dezember 2009 auf 89 erhöht. Allein in 2010 folgten weitere 14 Generalstreiks (fast so viele wie in den gesamten 1980er Jahren), in den ersten neun Monaten des Jahres 2011 waren es 6. Am streikfreudigsten erwiesen sich die Griechen, gefolgt von den Italienern und den Franzosen. Aber auch in Ländern wie Österreich und den Niederlanden kam es in den vergangenen Jahren zu je drei, in Luxemburg und Norwegen zu immerhin einem Generalstreik oder Generalstreikdrohungen.
Die meisten dieser Generalstreiks waren Abwehrkämpfe gegen Sozialabbau und Rentenkürzungen. In immerhin 40 Prozent der Streiks konnten die Regierungen dazu gebracht werden, die Maßnahmen abzumildern oder ganz zurück zu nehmen. Mögliche Erfolge eines Generalstreiks hingen, so Kelly, von vielen Faktoren ab: neben der Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaften spiele auch die Zusammensetzung einer Regierung eine wichtige Rolle. So seien Mitte-Rechts-Koalitionsregierungen öfter zu Zugeständnissen bereitgewesen als sozialdemokratisch geführte Regierungen. Kelly unterstrich auch, dass es keinen Automatismus zwischen einem Generalstreik und Wahlerfolgen radikaler linker Parteien gäbe, ebenso wenig wie zwischen Generalstreiks und einem anschließenden Wachstum der Mitgliederzahl von Gewerkschaften. Allerdings deute vieles darauf hin, dass Generalstreiks zu einer Steigerung der Zahl der tatsächlich Aktiven in Gewerkschaften und linken Parteien führen würden.
Veit Wilhelmy wandte sich anschließend dem Thema „Kommt der politische Streik auch in Deutschland? Bestandsaufnahme und Strategien einer möglichen Umsetzung“ zu. Das deutsche Streikrecht schilderte er als eines der restriktivsten Europas, in dem politische Streiks häufig als illegal betrachtet werden. Dies wiederspreche sowohl der Europäischen Sozialcharta als auch der Europäischen Menschenrechtskonvention. Bei seiner eigenen Gewerkschaft, der IG BAU, wurde die Forderung nach politischen Streiks bereits ins Programm aufgenommen, ebenso bei ver.di. Eine Präzisierung dieser Forderung wurde beim letzten ver.di-Bundeskongress aber trotz einer Vielzahl von Anträgen zum Thema vertagt. Wilhelmy stellte sich gegen die häufig vertretene Annahme, die Gewerkschaften müssten erst wieder stärker werden, ehe sie das Mittel des politischen Streiks in Betracht ziehen könnten. Es sei eher andersherum: politische Streiks könnten auch als Mittel gesehen werden, Gewerkschaften wieder stärker, durchsetzungsfähiger und damit attraktiver zu machen.
In der Diskussion wurde die Notwendigkeit der Aufnahme politischer Streiks in das Arsenal der gewerkschaftlichen Kampfmittel breit geteilt. Allgemein sprach man sich für eine Art Doppelstrategie aus: Einerseits müsse das Thema innergewerkschaftlich bspw. durch Anträge und Diskussionen bei Gewerkschaftstagen weiter forciert werden, andererseits gelte es, die Verankerung und Durchsetzungsmacht der Gewerkschaften in den Betrieben soweit zu stärken, dass für die Kolleginnen und Kollegen auch politische Streiks zu einer realistischen Option werden. Hans-Jürgen Hinzer, Streikbeauftragter der NGG, erinnerte an verschiedene politische Streikaktionen in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten. Karl-Heinz Michel, Bezirksverbandsvorsitzender der IG BAU in Wiesbaden-Limburg schilderte, wie es gelang, den politischen Streik in der Programmatik seiner Gewerkschaft zu verankern. Florian Wilde verwies darauf, dass politische Streiks zwar nicht automatisch zu Erfolgen führen, dass der Verzicht auf sie aber auf jeden Fall eine Schwächung der Position der Gewerkschaften bedeute: So seien in Deutschland als einzigem Land Europas in den letzten 10 Jahren die Reallöhne gesunken, weil die Gewerkschaften die verheerenden Auswirkungen der Agenda2010 nicht verhindern konnten. Hier gälte der alte Satz: Wer mit politischen Streiks kämpft, kann verlieren – wer nicht kämpft, hat schon verloren.
Diskussion über Gewerkschaftstage von ver.di und IG Metall
Nachmittags stand die Auswertung der Gewerkschaftstage von ver.di und IG Metall auf dem Programm. Sonja Staack, stellv. Vorsitzende von ver.di Berlin und Axel Gerntke, Vorstandssekretär der IG Metall berichteten. Sonja Staack zog insgesamt eine positive Bilanz des ver.di-Bundeskongresses. Vor allem atmosphärisch sei er ein Kongress einer inzwischen wirklich zusammengewachsenen Gewerkschaft gewesen, deren Delegierte sich bis tief in die Nacht engagiert und solidarisch an vielen, häufig auch grundsätzlichen, Diskussionen beteiligten. Die Positionierungen von ver.di zur Euro-Krise oder zum politischen Streik, aber auch zur Rolle der Bundeswehr an Schulen zeigten, wie groß die Schnittmenge der Gewerkschaft zu linken Positionen insgesamt sei.
Allerdings wurde in der Debatte die Kritik geäußert, dass die Papierlage oftmals nicht dem Handeln der Gewerkschaften entspräche. Dies betreffe zum Beispiel den Offenen Brief der Gewerkschaftsvorsitzenden an den deutschen Bundestag mit der Aufforderung zur Zustimmung zum Europäischen Rettungsschirm. Da dieser Rettungsschirm an massive soziale Einschnitte geknüpft sei, würde seine Unterstützung gewerkschaftlichen Forderungen wiedersprechen.
Arbeitsplanung des Gesprächskreises Gewerkschaften
Abschließend stand die weitere Arbeit des Gesprächskreises auf dem Programm. Florian Wilde, der die sich in Elternzeit befindende Fanny Zeise als Koordinator des Gesprächskreises vertritt, stellte die für den 12. Mai in Berlin geplante internationale Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung Politische Streiks im Europa der Krise vor. Ihr Ziel ist, die Debatte um politische Streiks zu befördern, indem man das Thema entmystifiziert. So soll dort mit generalstreikerfahrenen KollegInnen aus dem europäischen Ausland über deren realen Erfahrungen, über Schwierigkeiten und Erfolgebei der Durchführung politischer Streiks diskutiert werden. Die Plakte und Flyer können unter wilde@rosalux.de bestellt werden um interessierte Kolleginnen und Kollegen zu mobilisieren.
Von Florian Weis, dem Geschäftsführenden Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung, wurde die Bedeutung des Gesprächskreises für die Arbeit der Stiftung unterstrichen, für die er bei der Findung relevanter Themen, bei der Vergabe von Studien und bei der Auslandsarbeit eine wichtige beratende Funktion habe.
Fanny Zeise, Referentin für Arbeit, Produktion und Gewerkschaften in der Rosa-Luxemburg-Stiftung, stellte abschließend die Idee einer großen Konferenz von Rosa-Luxemburg-Stiftung und ver.di Stuttgart im Frühjahr 2013 zum Thema Arbeitskämpfe vor. Auf der Suche nach Potential zur Revitalisierung der Gewerkschaften wendet sich die Konferenz dem Streik – dem wichtigsten gewerkschaftlichen Machtmittel – und dessen aktuellen Entwicklungen zu. Auf der Konferenz sollen wissenschaftliche Studien und Untersuchungen und praktische Erfahrungen von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern zusammengeführt und gemeinsam diskutiert werden.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat zur Vorbereitung eine Studie zu Frauen und Streiks und zu der aktivierenden und demokratischen und dabei sehr erfolgreichen Streikkultur bei ver.di Stuttgart in Auftrag gegeben. Es soll geprüft werden, ob aus den Beiträgen zur Konferenz ein Sammelband entstehen kann, um die Diskussion auch über die Konferenz hinaus zu führen. Das langfristig angelegte Projekt wurde im Gesprächskreis sehr positiv aufgenommen.
Das nächste Treffen des Gesprächskreises wird voraussichtlich im Spätsommer/Herbst 2012 zum Thema „Wirtschaftsdemokratie“ stattfinden.
Für beide Themen sind Anregungen und Mitarbeit sehr willkommen. Bitte meldet euch zum Thema Arbeitskämpfe bei Fanny Zeise (zeise@rosalux.de) und beim Thema Wirtschaftsdemokratie bei Florian Wilde (wilde@rosalux.de).
PS: Wir möchten uns an dieser Stelle auch noch einmal für die Kooperation mit der Friedens- und Zukunftswerkstatt e.V. auf dem Treffen bedanken!
Weiterführende links:
Homepage von Veit Wilhelmy mit Bestellmöglichkeit für seine Bücher zum Thema «Politische Streiks»: http://www.veit-wilhelmy.de/
John Kelly/Kerstin Hamann: General Strikes in Western Europe 1980-2008, online: http://www.psa.ac.uk/2009/pps/Kelly.pdf
Skizze Konferenz «Erneuerung durch Streik. Erfahrungen mit einer aktivierenden und demokratischen Streikkultur»