Anmerkungen zum Wahlergebnis der Linken in Berlin

Im Osten stürzt sie ab, im Westen bleibt sie unten. Von Conny Hildebrandt, Rosa-Luxemburg-Stiftung

Im Osten stürzt sie ab, im Westen bleibt sie unten.
Von Conny Hildebrandt, Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Berlin hat 2.425.457 Wahlberechtigte, davon haben 58 %, d.h. 1.407.964 Wähler, ihr Wahlrecht in Anspruch genommen. Bereits hier zeichnet sich zwischen dem Osten und Westen der Stadt eine für die Linkspartei folgenreiche Differenz ab. Während die Wahl­beteiligung im Westen der Stadt immerhin bei 61,1 % lag, sank die Wahlbeteiligung im Osten der Stadt auf 53,9 %. Dramatisch - nicht nur für die Linkspartei - ist der Rückgang der Wahlbeteiligung in den ehemaligen Hochburgen der Linkspartei mit einer Wahlbeteiligung von 49,3 % in Marzahn-Hellersdorf und 49,7 % in Lichtenberg. In beiden Bezirken erreichte die NPD einen Stimmanteil von 6 % bzw. 6,4 %. Das Ziel der Linkspartei: „17 % + X“ wurde mit 13,4 % deutlich nicht erreicht. Sie verlor im Vergleich zu den Bundestagswahlen 2005 im Ostteil der Stadt 2 %, in den Westbezirken 2,7%. Sie fällt damit hinter das Ergebnis der Abgeordnetenhauswahlen von 1999 zurück, ein Rückschlag, der mit Ausnahme von Neukölln vor allem die mühsame gesellschaftliche Verankerung in den Westbezirken betrifft. Der sich seit Jahren vollziehende Rückgang der Wahlbeteiligung trifft sicher alle Parteien, also auch die großen Parteien, deren Ergebnisse sich offensichtlich im 30-prozentigen Stimmenanteil auch auf Landesebene ansiedeln. Dieser Rückgang hat sicher vielschichtige Ursachen, u.a. die grundsätzlich nachlassende Bindung an Parteien, denen zunehmend weniger Vertrauen zur Lösung anstehender städtischer Probleme entgegengebracht wird. Dies gilt ebenso für die Linkspartei. Auch sie unterliegt dieser grundsätzlichen Tendenz, die sich mit ihrer politischen und kulturellen Öffnung und Entwicklung zur gesamtdeutschen Partei und nachlassender Beachtung ihrer ostpolitischen Kompetenz verstärkt. D.h. konkret: sie erhielt ca. 51.000 Zweitstimmen weniger als zu den Abgeordnetenhauswahlen 1995. Für die Mehrheit der Wähler zu den Berliner Wahlen 2006 zum Abgeordnetenhaus wie zu den Bezirksverordnetenversammlungen gab die Landespolitik den Ausschlag. D.h. bundespo­litische Themen wie der Kriegseinsatz der Bundeswehr, die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Gesundheitsreform etc. und der Verweis darauf, dass die Stimmenabgaben für SPD, Grüne, FDP und CDU zugleich als Zustimmung zu ihrer Parteipolitik auf Bundesebene gewertet werden, führten nicht zur Gewinnung weiterer Wählerstimmen. In Bezug auf die Kommunalpolitik bedeutete dies, dass auch diese von der Linkspartei in bezirklichen Wahlprogrammen erarbeiteten Themen konkreter sozialer, kultureller, stadträumlicher Gestaltung letztlich als nachrangige Themen kaum wahlbestimmend waren. Gefragt waren Kompetenzen, die sich auf die Gestaltung und Entwicklung der Stadt bezogen. Und hier verlor die Linkspartei gerade auf den Feldern, auf denen ihr Kompetenzen zugeschrieben wurden. Sie verlor 5 % als Partei der sozialen Gerechtigkeit (Zuschreibung liegt bei 34 %), auf dem Gebiet der Bildung 9 % (Zuschreibung liegt bei 24 %), 6 % beim Schuldenabbau (Zuschreibung bei 7%), beim Thema Zukunft 9% (Zuschreibung bei 8%). Dies bedeutete für die Linkspartei, dass 112.000 Menschen dem Politikangebot der Linkspartei zur Fortsetzung ihrer Arbeit in der rot-roten Koalition nicht mehr ihre Stimme gaben. 69.000 von ihnen gaben niemandem mehr ihre Stimme – wurden Nichtwähler. Im Vergleich zu 2001 verlor die Linkspartei zwei Drittel ihrer Wähler unter 30 Jahre. Deren Anteil an der Gesamtwählerschaft liegt lediglich noch bei 12 % während die SPD einen Zuwachs von 8 % auf 36 % zu verzeichnen hat. Jene, die mehr oder weniger zufrieden mit der Arbeit der Koalition waren, rechneten dies der SPD an und gaben bei dieser Wahl ihr die Stimme (27.000). 16.000 von jenen, denen der Politikansatz der Linkspartei zu angepasst an den Koalitionspartner, zu wenig eigenständiges Profil zeigend oder zu wenig radikal war, gaben ihre Stimme der WASG. Sowohl in Berlin als auch in Mecklenburg-Vorpommern wurde die Linkspartei auf die relativ geringe Stammwählerschaft zurückgeworfen bzw. blieben dort. Die WASG erreichte in Berlin 2,9 %, davon 3,3 % im Osten der Stadt und 2,6 % in den Westbezirken. Übersetzt in absolute Zahlen bedeutet dies z.B. für die Bezirksverordnetenversammlungen (BVV), dass die WASG mit 24.324 Stimmen in allen Ostbezirken nun mit 2 oder 3 Bezirksverordneten in den Bezirksparlamenten vertreten sein wird. Im Westen der Stadt konnte sie mit 14.870 absoluten Stimmen für die Wahlen zu den BVV nur in zwei Bezirksparlamente einziehen und erschwerte zugleich den Einzug der Linkspartei in die westlichen Bezirksparlamente (mit Ausnahme von Neukölln) oder verhinderte ihn wie in Reinickendorf und Steglitz-Zehlendorf. Bezogen auf die Wählerstimmen für die Bezirksparlamente entzog die WASG der Berliner Linkspartei 39.194 Stimmen. Das Ergebnis der rechten Parteien ist nicht unerwartet und dennoch erschreckend… Hierzu liegt eine gesonderte Auswertung vor. Eine Analyse hierzu wird von Horst Helas, rls, erarbeitet. Worin liegen die Ursachen für eine solche Niederlage, für den dramatischen Rückgang der Wahlbeteiligung, für das Abwandern der bisherigen PDS-Wähler vor allem in den Nichtwählerbereich? Hierzu lediglich erste Anmerkungen:

1. Im Gegensatz zu 2001 gab es keine Wechselstimmung, keinen Aufbruch, keinen Neubeginn, so dass die Wahlbeteiligung zunächst erwartungsgemäß unter der Wahlbeteiligung zu den Berliner Wahlen von 2001 blieb. Allerdings ist das Wegbleiben von 10 % der Wähler in den westlichen Bezirken und 10,2 % der Wähler in den Ostbezirken allein hiermit nicht erklärbar. D.h. in absoluten Zahlen im Vergleich zu den Berliner Wahlen von 1999, dass über 174.000 Wahlberechtigte 2006 nicht mehr zur Wahl gingen.

2. Das Ergebnis der Linkspartei bei den Bundestagswahlen wurde immer wieder als Vorwegnahme einer gesamtdeutschen neuen Linkspartei gewertet. Vor diesem Hintergrund musste sich der Wahlantritt der WASG gegen die Linkspartei, der zunächst unprofessionelle Umgang der Linkspartei mit der WASG - für Außenstehende nicht nachvollziehbar - auf das Wahlergebnis der Linken auswirken. Das neue parteipolitische Projekt hat zumindest in Berlin keine attraktive Wirkung mehr, die sich erneut in Wählerstimmen niederschlägt. Der Wandlungsprozess der Partei, der vor allem als Veränderung des Personaltableaus und als Kontroverse auf der Führungsebene erscheint, kann von der eigenen Mitgliedschaft im Osten nicht mehr mitvollzogen werden. Es ist nicht mehr die eigene Partei, für die es lohnt, die Stimme abzugeben.

3. Die Linkspartei.PDS, stand 2001 als eine der Alternativen zu Berliner Politik des Größenwahns, der Korruption, des Bankenskandals. Ihr wurde zugetraut, als einer an diesen Skandalen nicht beteiligten Partei, eine solche Politik in Regierungsver­ant­­wortung zu beenden, eine Kehrtwende der Politik zu sachgerechter Verwaltung und Aufarbeitung der Politik der großen Koalition vorzunehmen. Sie wurde mit dem Abbruch dieser Politik beauftragt und konnte genau diese Rolle nicht verlassen. Sie selbst stellte sich im Wahlkampf – auch im Wahlprogramm - als Partei des Aufräumens dar, die in ihrer nächsten Legislaturperiode ihren Schwerpunkt auf stärker auf Gestaltung von Politik und Entwicklung von Projekten legen wollte. Damit aber blieb die wahrnehmbare Leitidee auf Haushaltskonsolidierung reduziert. Die von Rolf Reißig in seiner Studie der Berliner PDS in Regierungsverantwortung geforderten Projekte fehlten. Er schreibt: „Die politische Kunst wird darin bestehen, Projekte gesellschaftlicher Veränderung zu entwickeln und nicht nur – wie die gegenwärtige Koalition – die Misere zu verwalten.“. Diesem Anspruch an linke Politik (der übrigens auch Linke in der Opposition gilt), wurde die Linkspartei nicht gerecht. Dies musste sich bei einer Wahl mehrheit (2001), der keine langfristige politisch-strukturelle Mehrheit zugrunde lag, auswirken.

4. Fraktion und SenatorInnen haben aufgeräumt, haben den Bankenskandal soweit möglich aufgearbeitet, haben gebrochen mit der Größenwahnpolitik der Vorgängerregierung. Aber sie waren so mit Aufgaben beschäftigt, die sich in der Wahrnehmung der Wählerinnen und Wähler nicht unmittelbar auf die konkrete, sich grundsätzlich verschlechternde Lage des Einzelnen auswirkte. Bankenskandal und Haushaltssanierung, ca. 60 Mrd. Euro Verschuldung der Stadt blieben abstrakte Größen. So stand die vor allem als Sparkurs wahrgenommene Aufräumarbeit neben einer sich gleichzeitig erfahrenen Verschlechterung der sozialen Lage der Mehrheit der Berliner. Mit dem Sozialstrukturatlas wurde wachsende Armut, vor allem von Kindern zwar öffentlich, aber es fehlte an Konzepten gegen eine solche Entwicklung.

5. Unter diesen Bedingungen fehlte ein ausgearbeitetes Konzept der sozialen Stadt in besonderem Maße. Es ist aus seinen Kinderschuhen nicht herausgekommen. In diesem Zusammenhang sollte auch zu denken geben, dass die Wahlbeteiligung in Steglitz-Zehlendorf, dem „reichsten“ Berliner Bezirk bei 68,8 % lag, während die Wahlbeteiligung in Neukölln, dem Bezirk mit der höchsten Arbeitslosigkeit in Berlin, nur bei 55,5 % lag, auch wenn hier die Linkspartei beachtliche 5 % erreicht hat. Es ist sicher notwendig, sich die soziale Zusammensetzung der Nicht­wähler noch einmal besonders anzusehen, ebenso den wachsenden Stim­menanteil der nicht im Parlament vertretenen Parteien mit 13,7%.

6. Die Gestaltungsfähigkeit von Politik auf Landesebene mit Inhalten, die zu einer Verbesserung der sozialen der Lage des Einzelnen führen, wurden der Linkspartei nicht mehr zugesprochen, auch wenn Heidi Knake-Werner zum Beispiel unter Nutzung aller ihrer Möglichkeiten Massenumzüge verhinderte. Bundespolitik schlägt gerade im sozialen Bereich unmittelbar auf die Landespolitik und letztlich auf deren geringe Gestaltungsspielräume durch. Letztlich hat die Linkspartei auf Landesebene kein schlüssiges Konzept zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Im Wahlprogramm finden sich hierzu Ideen, die bisher kaum untersetzt wurden. Der real umgesetzte Ansatz: „nicht verschlimmern - maximal Mögliches herausholen“ reichte nicht, um der tendenziellen Verschlechterung von Lebensqualitäten des Einzelnen entgegenzuwirken. Ansätze, wie die Sozialberichterstattung in Berlin, führten nicht zu öffentlichen Debatte über Hintergründe der eigenen Politik, wurden nicht in diesem Sinne verstanden.

7. Die Schwäche der Partei, das weitgehende Fehlen konkreter alternativer Projekte machte es unmöglich, die Einordnung der Regierungspolitik in längerfristige Ziele darzustellen, was vor allem von eher kapitalismuskritischen Kreisen innerhalb und außerhalb der Partei als Substanzverlust verstanden werden musste. Die Linkspartei war so nicht mehr von der SPD unterscheidbar – daher der Erfolg der SPD, die die Politik des Senats mit allen seinen Folgen ja in viel höherem Maße zu vertreten hat. Selbst die GRÜNEN, die die Politik der AGENDA 2010 ja mitgetragen haben, gehen aus diesem sozialpolitischen Umbruch gestärkt hervor! Viel mehr als eine gute sozialdemokratische Politik ist aber in dem Bedingungsfeld, das sich die Linkspartei geschaffen hat, nicht möglich.

8. Die Entwicklung der Gemeinschaftsschule steht für den konkreten Versuch, alternative Projekte zu entwickeln. Allerdings stieß es als vermeintliches „Ostprojekt“ und vor dem Hintergrund der gescheiterten Versuche, die Gesamt­schule als gesamtstädtisches Westberliner Schulmodell zu entwickeln, im Westen kaum auf Resonanz, die sich in Wählerstimmen auszahlte. Veranstaltungen hierzu blieben weitgehend nur schwach besucht. Hier ist es künftig notwendig, sich öffentlich mit den Ursachen der gescheiterten Versuche und letztlich deren Abwertung auseinanderzusetzen, um so auch die Distanz gegenüber dem Gemeinschaftsschulprojekt der Linkspartei zu überwinden. De facto stand die Vision der Gemeinschaftsschule der Abschaffung der Lern- und Lehrmittelfreiheit, der Verschlechterung der Bedingungen für Lehrer und Erzieher gegenüber.

9. Die Partei - als Organisation mit ihren Gliederungen - spielte bei der Entwicklung linker Berliner Politik keine Rolle mehr, sie trat nicht mehr als eigene politische Kraft, die auch Senatspolitik kritisieren darf und muss, in Erscheinung. Als ein weiteres Problem erwies sich die mangelnde Verknüpfung und Abstimmung von Landes- und Bezirkspolitik (über den Rat der Bürgermeister hinaus), der Arbeit der Fraktion im Abgeordnetenhaus mit der Arbeit der Fraktionen in den Bezirksparlamenten. Die Auseinandersetzung um das Straßenausbaubeitragsgesetz soll nur beispielhaft hierfür stehen. Somit wurde die Senatspolitik der Linkspartei zur Haushaltssanierung nicht als Instrument zur Realisierung weitergehender Ziele sichtbar und einordenbar, sondern erschien als DAS Ziel.

10. Politikstil – neue Formen der Bürgerbeteiligung, Bürgerentscheide auf Bezirksebene. Hier hat die Linkspartei einiges vorzuweisen mit Änderungen zur Verfassung von Berlin, aber auch mit dem Bürgerhaushalt in Lichtenberg. Aber ausgerechnet in dem einzigen Bezirk, in dem dieser umgesetzt wird, ist die Wahlbeteiligung dramatisch gesunken. D.h. hier müssen die Defizite, dies als zentrales Projekt auch für einen anderen Politikansatz und Politikstil auf Landes- und Bezirksebene herauszustellen, benannt werden, ebenso die stärkere Verknüpfung von Landes- und Bezirkspolitik. Mit den Vorstößen zur Demokratisierung Berlins entsprach die PDS dem Auftrag des Kampfes gegen Intransparenz und Klientelismus, wie er sich im Bankenskandal äußerte. Allerdings ist dieser Gedanke trotz der vielfältigen Aktivitäten, die die politische Handlungsfähigkeit der BürgerInnen und übrigens auch der Abgeordneten entscheidend erweitert haben, kein Thema geworden, das die Politik der PDS in der Breite bestimmt. Das Thema Demokratie bleibt der Linkspartei fremd (trotz der starken Fixierung auf parlamentarische Arbeit) – die durchgesetzten Projekte sind der Durchsetzungsfähigkeit von Einzelpersonen zu danken; der Bürgerhaushalt in Lichtenberg wurde eben nicht zu einer Aktivierung der Linkspartei und über diese der BürgerInnen genutzt.

11. Offen bleibt, warum sich von der Linkspartei 15 % ihrer Wähler unter 30 Jahre abgewandt haben. Gerade hier stellt sich die Frage nach klaren, verständlichen Botschaften für die die Linkspartei steht, letztlich auch auf ihren Plakaten. Das Projekt Gemeinschaftsschule war hierzu nicht geeignet, richtet es sich doch an eine Schülergeneration, die die Schulen noch gar nicht betreten hat, während die Angebote für die heutigen Schüler und Auszubildenden nicht als Alternativen wahrgenommen wurden.

12. Es ist der Linkspartei vor allem in den Innenstadtbezirken nicht gelungen, im Wahlkampf jene Themen wie Migration, Kultur, Bildung und auch Innenpolitik so zu präsentieren, dass damit auch potentielle Grüne-Wähler erreicht wurden, obwohl z.B. mit dem Integrationskonzept hierfür eine gute Grundlage vorlag. Untersuchungen im Vorfeld der Bundestagswahlen 2005 ergaben z.B. für den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, dass Werte wie Kreativität, Selbstverwirk­lichung, Solidarität und Toleranz sowohl die Wählerschaft der Linkspartei als auch der GRÜNEN prägen. Was bedeutet das für die Berliner Linkspartei?

1. Wenn es, wie Harald Wolf formuliert, notwendig ist, stärker Profil zu zeigen, muss das im Wahlkampf weitgehend nicht erkennbare Profil der Linkspartei, wenn sie in Sondierungsgespräche geht, deutlich erkennbar sein. D.h. es muss klar sein: Was will die Linkspartei in der Koalition? Wofür steht sie? Was sind die Essentials linker Politik in Regierungsverantwortung auf der Berliner Landes­ebene? Wofür steht sie nicht? Welche konkreten Projekte will sie entwickeln?

2. Sie muss die Frage beantworten, wie sie als Teil einer rot-roten Koalition eine neue parteiübergreifende Kultur entwickelt, wie sie das Spannungsverhältnis zwischen Konfliktfähigkeit und Konsensfähigkeit entlang dem Anspruch eigenständiger Politikansätze gestaltet. Sie muss hierbei – stärker als bisher – objektive Widersprüche und Gestaltungsschranken deutlich machen, die auch von der Bundes- oder europäischen Ebene gesetzt werden. Konflikt- und Konsensfähigkeit müssen dabei nicht nur als parlamentarische Tugenden, sondern auch im Zusammenwirken mit Gewerkschaften (gerade auch Gewerkschaften im öffentlichen Dienst) und mit sozialen Bewegungen entwickeln werden. Nur so können die von Rolf Reißig eingeforderten neuen parteiübergreifenden institutionellen Formen des Dialogs gefunden werden. 3. Die Linkspartei braucht auf Berliner Ebene ein stringentes Konzept öffentlicher Daseinsvorsorge (einschließlich eines Konzeptes zur Sanierung städtebaulicher Wohnungsbaugesellschaften). Offen ist, ob die Linkspartei trotz der geplanten bundesweiten Reformen im Gesundheitsbereich, auf Landesebene Alternatives entgegensetzen kann, auch durch den Erhalt und die sich bereits vollziehende Umstrukturierung der städtischen Gesundheitseinrichtungen (einschließlich Vivantes und Charité)? 4. Die Linkspartei ist dabei, ihre Kritikfähigkeit zu entwickeln. Daran sollte sie festhalten. Ebenso wichtig wird aber auch angesichts ihrer Stimmenverluste einerseits die wachsende Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion und Analyse als auch die Fähigkeit zur Entwicklung eigener Politikangebote über die Herausforderungen der Tagespolitik hinaus. Sie muss, um für politisch Interessierte wieder attraktiv zu sein, um aus dem Image des pragmatischen Vollziehers herauszukommen, wieder konkrete Utopien entwickeln, wie es ja mit dem Gesamtschulprojekt versucht wird.

5. Für die weitere Arbeit im Landesverband der Linkspartei, vor allem auch in Vorbereitung des Parteineubildungsprozesses, sind intensivere Diskussionen zu den Politikansätzen der Linkspartei mit den einzelnen Gliederungen des Landesverbandes, bis hin zu den Basisgruppen, mit Sympathisanten in Organisationen und Verbänden, die der Linkspartei nahe stehen, Vertretern von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, aber auch den Kritikern der Landespolitik, die sich ja nicht in der WASG erschöpfen, in neuer Dimension und Qualität notwendig. Die Beschlüsse der Landesparteitage, auch wenn sie von Mehrheiten getragen wurden, führten nicht dazu, dass diese auch gleichermaßen von der Mitgliedschaft verstanden und vertreten wurden. Einbeziehungen der Gliederungen der Linkspartei, von Sympathisanten, von Externen und Experten in Diskussionen muss zunehmend die Grundlage für Entscheidungen bilden. Die Entscheidungsprozesse selbst müssen – soweit wie möglich - transparent gestaltet werden.

6. Der Landesvorstand als höchstes Gremium der Linkspartei auf Landesebene steht gemeinsam mit der Fraktion in der Verantwortung zur Entwicklung der Projekte der Linkspartei auf Landesebene und muss hierzu die notwendigen Strukturen entwickeln. In seiner Verantwortung steht es auch, den Dialog mit Organisationen und Verbänden, mit Gewerkschaftern und Vertretern sozialer Bewegungen direkt, als Teil seiner Aufgaben zu organisieren. Angesichts des Wahlergebnisses steht er außerdem in der Pflicht, die Situation der Partei in Bezirken bis hin zu Fragen der Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit zu analysieren.

7. Das, was in Berlin geschieht, hat bundespolitische Bedeutung. Die Landespolitiker in Berlin, die Funktions- und Amtsträger haben die Pflicht, das gesamte Parteiprojekt im Blick zu haben, einschließlich der Gestaltung des Parteineubildungsprozesses. Mit dem Eintritt in Sondierungsgespräche und ggf. in Koalitionsverhandlungen wird sich in Berlin der Parteineubildungsprozess angesichts des Wahlergebnisses noch komplizierter gestalten. Zugleich würde eine generelle Absage an Regierungsoptionen langfristig die Politik- und Handlungsfähigkeit der dann neu gebildeten Partei in Frage stellen. D.h. alle, die sich mit den Ergebnissen der Sondierungs- und ggf. Koalitionsgespräche auseinandersetzen, tragen zugleich die Verantwortung für das neu zu bildende Parteiprojekt. Ein offenes Problem bleibt für Berlin, für Mecklenburg-Vorpommern und jedes weitere Bundesland, in dem die Linkspartei in die Regierungsverantwortung geht, ob es möglich ist, sich einerseits als linke Partei zu profilieren und andererseits regional zu regieren, d.h. unter den konkreten Bedingungen Voraussetzungen für einen politischen Richtungswechsel zu schaffen. Das Spannungsverhältnis zwischen linker Profilierung und Regierungstätigkeit führt
zu dauerhafter Inkonsistenz, mit der die gesamte Partei umgehen muss. Berlin, 22.9.2006
C. Hildebrandt
Rosa-Luxemburg-Stiftung