„Ob der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will?"

Bericht zum 10. werkstattgespräch in München von Elisabeth Baumgartner

Bericht zum 10. werkstattgespräch in München von Elisabeth Baumgartner

In der Reihe Werkstattgespräche, über die in dieser Zeitschrift mittlerweile regelmäßig berichtet wird, befasste sich der Kurt-Eisner-Verein mit einem Problem, dessen Relevanz für die politische Auseinandersetzung nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist. So hatte er den Psychologen Prof. Dr. Klaus Weber, Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Bayern und Vorsitzender des Kurt-Eisner-Vereins, zu der Fragestellung „Wann ist mein Kind normal? – Hyperaktivität bei Kindern“ eingeladen. Weber stellte zu Beginn klar, dass sich mit dieser Frage jede und jeder befassen könne, auch wenn keine eigenen Kinder vorhanden seien. Vielleicht sei letzteres sogar besser, weil der Blick noch unverstellt ist. Er selbst jedenfalls habe seine pädagogischen Einstellungen auch nach Geburt seines Sohnes nicht verändert. Das Kind – Objekt der Pädagogen Weber erinnerte, das trotz des abgelaufenen „Jahrhunderts des Kindes“ Kinder nicht die Orte, an den sie leben, sei es Kindergarten, Schule oder die Gestaltung des Wohnviertels, mitbestimmen und mitgestalten könnten. Dagegen könne eine zunehmende Pädagogisierung und Pathologisierung der Kindheit wahrgenommen werden. Das Kind sei zum Objekt der Pädagogen und der „helfenden Wissenschaften“ geworden. Weber verdeutlicht dies am Beispiel des Aufmerksamkeitsdefizit-/Aufmerksamkeitshyperaktivitätssyndroms (ADS/ADHS). Hierzu präsentiert er folgende der FAZ entnommen Zahlen: Während 1990 noch 15.000 Kinder mit Methylphenidat, bekannt unter den Handelsnamen wie z.B. Ritalin oder Medikinet, medikamentös eingestellt wurden, waren es 2005 zwischen 50.000 und 100.000 Kinder. Nach Schätzung der Kinder- und Jugendpsychiater seien 500.000 Kinder betroffen. Das Medikament soll das Problem, die Störung „wegmachen“. Die Denkweise dahinter lautet: Das Kind hat ein Problem, die Störung liegt im Kind. Es werde auf Heilung, nicht auf einen besseren Umgang mit dem Kind gesetzt. Mit der Medikation trete zunächst Beruhigung in der Familie ein. Das Problem sei benannt, man spreche nicht über eine Absetzung. Weber verwies auf ein Forschungsprojekt in einer Schule in Berlin. Dort sei der Unterricht so gestaltet worden, dass auf den Bewegungs- und Betätigungsdrang der Kinder Rücksicht genommen worden sei: Es habe keine ADS/ADHS Kinder mehr gegeben. Die Ursache des ADS/ADHS sei wissenschaftlich nicht geklärt. Dies habe zuletzt eine Anfrage der Grünen im Bundestag bestätigt. Die Medikation erfolge entgegen festgeschriebener Richtlinien häufig ohne psychosoziale Begleitung von Kind und Familie. Dies sei ähnlich wie in der Substitutionsbehandlung von Drogenabhängigen, in denen Praxen Methadon ohne die kostenaufwendige Betreuung verabreichen. Lange habe es keine Langzeitstudien zu Methylphenidat gegeben, Ergebnisse lägen erst jetzt vor. Folgen der Medikation seien Störungen der Grob- und Feinmotorik, Auch sei festgestellt worden, dass Alzheimer bei Personen, die mit Methylphenidat behandelt worden waren, durchschnittlich 12 Jahre früher auftrete, als bei unbehandelten Alzheimerpatienten. Wer oder was ist normal? Wer wissen will, wie das definiert wird, schlage z.B. das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder), das Handbuch zur Klassifikation psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung, auf. Während in der Erstausgabe 1952 Kinder noch nicht erwähnt waren, werden 1980 im DSM-III erste Störungsbilder beschrieben. Die Definitionen stellen Ergebnisse von Einigungsprozessen der Wissenschaft, nicht der Forschung dar. Weber erinnerte daran, dass Homosexualität in den 70er Jahren noch zu den Störungsbildern zählte. Andererseits eröffnete die Definition von Alkoholismus als Krankheit für die Betroffenen Behandlungsmethoden. Für Kinder sei der Katalog in der Folge immer größer geworden; ein gigantischer Pathologisierungsprozess sei eingeleitet worden. Begonnen habe der Versuch festzulegen, ob ein Kind normal entwickelt sei, zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Das französische Unterrichtsministerium lies dazu erste Testverfahren zur Schulfähigkeit entwickeln. Aufgenommen wurde die Entwicklung der Testdiagnostik dann von William Stern, der die differenzielle Psychologie begründete. Man geht dabei von der sogenannten Normalverteilung aus, nach der sich 75 % einer Gruppe im Normalbereich (IQ von 90 bis 110) bewegen, die restlichen 25 % stellen Ausreißer nach oben oder unten dar, und sind somit als hoch oder minderbegabt einzustufen. Auch in der Notengebung an den Schulen wird gefordert, dass Noten entsprechend der Normalverteilung vergeben werden. Dies bedeutet, das ein Ergebnis zu erzeugen ist, das vorher bereits festgelegt ist. Eingebürgert habe sich ein pragmatischer Normalitätsbegriff: Normal sei, was die Mehrheit als normal empfindet. Hier stellte Weber die Frage, wer sich denn mit der Etikettierung „normal“ noch wohlfühle. Seien nicht eher Begriffe wie Individualität, Eigenwilligkeit und Besonderheit positiv besetzt; gebe es nicht mittlerweile den „Otto Normalabweicher“? Kinder hingegen gestehe man die Unterschiedlichkeit nicht zu. Die Abweichung wird zur Störung. Wo eine Störung, da eine Behandlung Am Bespiel der Lese-Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie) verdeutlichte Weber, wie der Therapiemarkt nach Angebot und Nachfrage funktioniert. In Deutschland, wo früher weder über das BSHG noch über die Krankenkassen eine Kostenübernahme der Therapie möglich war, war das Störungsbild kaum gegeben. In der Schweiz, wo Legasthenietherapie über die Krankenkasse abgerechnet werden kann, war dagegen eine Zunahme der Fälle zu verzeichnen. In Deutschland ist auf der Grundlage des 1995 eingeführten § 35a SGB VIII eine Kostenübernahme durch die Kinder- und Jugendhilfe möglich. Nehmen Eltern diese Hilfe für ihr Kind in Anspruch, müssen sie gegenwärtig sein, dass dieses damit als seelisch behindert oder von seelischer Behinderung bedroht eingestuft und gegebenenfalls stigmatisiert wird. Was eine Leistungsschwäche war, wird zur Krankheit. Was tut Kindern gut und was nicht Eine mögliche Ursache für die wachsenden Schwierigkeiten von Kindern liege in der Veränderung der Bedingungen des Lernens, was er am Beispiel der Recherche verdeutlicht. Wo sich früher das Kind auf den Weg machte und in Kommunikation trat, um Fachwissen zu erhalten, googelt es nun im Internet und wird in kürzester Zeit mit Informationen überflutet, was, neben dem damit einhergehenden Bewegungsmangel, eine hohe Aufmerksamkeitsleistung abverlangt. Soziale Kompetenz hingegen wird nicht entwickelt und verkümmert. Einen weiteren Grund sieht Weber in der völligen Beliebigkeit, ja Verwahrlosung des Umgangs miteinander, wenn z.B. Absprachen nicht eingehalten werden. Gleichzeitig laste ein hoher Druck auf der Elternschaft, ihr Kind fit zu machen für Schule und Berufsleben. Alle an der Erziehung Beteiligten, Eltern, Erzieher, Lehrer, stellen Anforderungen, die das Kind erfüllen kann oder nicht. Erziehung stelle immer auch Machtausübung dar. Die Erziehungsziele der Eltern oder Erzieher seien nicht immer selbst gewählt und selbstbestimmt. Weber stellte die Forderung, Ziele und Anforderungen den Kindern zu erklären und damit nachvollziehbar zu machen. In der Diskussion wurde vor allem die bei Weber anklingende Kritik am Normalitätsbegriff in Frage gestellt. So sei zu überlegen, ob der Begriff des Normalen nicht auch auf Handlungsweisen einer sozialen Praxis ziele, die sich ein Kind erarbeiten müsse, um an ebendieser sozialen Praxis teilnehmen zu können. In der politischen Auseinandersetzung wird die Kindererziehung häufig als rein finanzielles Problem abgehandelt oder dient der Ideologisierung bestimmter Lebensweisen. Webers Herangehensweise zeigte jedoch, dass durchaus auch die Inhalte von Erziehung einer politischen Betrachtung zugänglich sind.