Nachricht | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Deutsche / Europäische Geschichte - Antisemitismus (Artikel) Von Doikayt und Jiddischkayt

Die Wiener Sängerin Isabel Frey im Gespräch mit Florian Weis über jiddische Lieder und den Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund

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Isabel Frey, Florian Weis,

Isabel Frey und Florian Weis im Gespräch (Diskussion «Das jüdische Europa» im Rahmen der Konferenz «Europa den Räten», 8.-10. November 2023 in der Volksbühne Berlin) CC BY 2.0, Foto: Andreas Domma

Florian Weis (FW): Ich freue mich, Isabel Frey zu Gast zu haben. Sie ist Sängerin, Aktivistin und Musikwissenschaftlerin und hat vor drei Jahren ihr Album «Millenial Bundist» veröffentlicht. Wie kommst Du als Wiener Aktivistin dazu, zur sozialistisch-jiddischen Liedtradition zu forschen und Lieder des Bundes zu singen?

Isabel Frey (IF): Das kam eigentlich aus einer Art doppelten Identitätskrise, einer Krise der zwei Identitäten, die ich als Mitte 20jährige hatte. Ich habe in Amsterdam studiert, war dort sehr politisch aktiv, aber auch etwas entfremdet von dem jüdischen, relativ bürgerlichen Milieu, in dem ich in Wien aufgewachsen bin, und hatte dann das Gefühl, dass das miteinander nicht zusammengeht, dieses Linkssein und Aktivistischsein und Jüdischsein. Ich hatte auch meine persönliche Krise des Zionismus erlebt als ich nach der Schule ein Jahr in Israel war, dort im Kibbuz lebte, mich mehr mit der aktuellen Politik im Israel/Palästina-Konflikt beschäftigte und erkannte, dass alles nicht ganz so ist, wie ich es vorher gehört hatte. Da war ein bisschen ein Loch in mir. Und da bin ich dann auf diese Musiktradition gestoßen und auf die Lieder, nicht nur speziell die des Bundes, sondern diese ganze revolutionäre jiddische Liedtradition. Die hat mich total begeistert und sofort gepackt, weil sie eben genau das zeigt: Nicht nur, dass ein Miteinander von Linkssein und Jüdischsein möglich ist, sondern dass es das auch gab, dass es eine lange Tradition hat. Mich hat das fasziniert, ich habe mich darin gesehen gefühlt und gefunden und es dann als Plattform genutzt, um auf eine andere Art das Jüdischsein, das säkulare Jüdischsein auf die Bühne zu bringen. Der Bundismus war auch von Anfang an ein großes Interesse von mir, als eine etwas vergessene Geschichte einer anderen Antwort auf die jüdische Frage im frühen 20. Jahrhundert. Der Bund stand zwischen einerseits Assimilation und andererseits einem Ethnonationalismus, in diesem Fall dem des Zionismus; obwohl er ja auch eine eigene Art des Nationalismus hatte, die aber einen deutlich anderen Bezug zu Minderheiten aufwies. Faszinierend war auch, dass der Bund sehr explizit antifaschistisch war, antifaschistisch gegen Hitler, und gleichzeitig diese starke Beziehung zur Diaspora und zum Diasporaleben hatte. Ich habe mich auch in neobundistischen Phänomen sehr wiedergefunden, insbesondere der Musik von Daniel Kahn, der eine große Inspiration für mich war. Und so kam es dann zu diesem «Millenial Bundist»-Album.

FW: Du singst jiddische Lieder. Es gibt vom jungen Friedrich Engels eine sehr flapsige, und wie ich finde, dumme Bemerkung, wo er das Jiddische als eine minderwertige Sprache abtut. Ich glaube, der ältere Engels war, wie in vielen anderen Dingen, auch zur jüdischen Frage sehr viel klüger und differenzierter. Das Jiddische ist ja eine ganz spannende Sprache. Vielleicht kannst du noch sagen, was dich daran anspricht, und warum der Bund dezidiert die Partei der Jiddischkayt war.

IF: Mich fasziniert das Jiddische sehr stark auf Grund seiner Hybridität, deswegen sehe ich mich auch in meiner Identität ein bisschen im Jiddischen verkörpert. Es verknüpft so viele verschiedene Elemente: Die enge Beziehung zum Deutschen über das Mittelhochdeutsche, gleichzeitig die Wichtigkeit der hebräischen Schrift und dann noch Wörter aus dem Hebräischen, die jetzt aber keine religiöse Bindung haben. Das Jiddische war immer eine sich ständig adaptierende Sprache und insofern eigentlich wie jede andere Sprache, aber ihre Hybridität ist einfach noch offensichtlicher; die einzelnen Komponenten verwandeln sich eben nicht in eine einheitliche Sprache, sondern bleiben immer auch noch als solche erkennbar. Da steckt sehr viel Poetik drin, je nachdem, welche Komponenten man verwendet. Das ist so die sprachliche, die poetische Ebene. Und dass das Jiddische gerade für den Bund charakteristisch war, dass sich der Bund so auf die Jiddischkayt gestützt hat, hat damit zu tun, dass es die gesprochene Sprache der jüdischen Arbeiterbewegung war. Es war wirklich die Sprache der Masse und auch eine säkularisierte Sprache. Es gab den Jiddischismus als Ideologie, der das Jiddische zu einer Art Kultursprache erheben wollte, aber die jiddisch-sozialistische Bewegung fußte stark auf dieser populistischen Idee: Die Masse spricht Jiddisch. Das ist natürlich vorbei. Das Jiddische war lange Zeit die jüdische Umgangssprache und ist es in säkulären jüdischen Gemeinschaften jetzt nicht mehr, hat heute aber eine andere Bedeutungsebene aufgebaut. Eine vielleicht etwas symbolischere oder performativere, aber eine, die genauso mitspricht bei der Frage, wer das jüdische Volk ist.

FW: Beim Bund finde ich zweierlei auffällig im Umgang mit dem Jiddischen, Du hast es angesprochen: Das sehr, sehr Hybride, und das nicht als Schwäche oder Problem, sondern als Stärke und Chance. Das sieht man ja auch an ihren Plakaten, die dann eben diese Mischung aus Hebräisch, Jiddisch und Polnisch haben. Dahinter steckt auch ein Konzept, insofern würde ich einen gewissen Einwand haben: Ich weiß nicht, ob man von Nationalismus beim Bund sprechen kann. Die meisten Nationalismen streben einen eigenen Staat an, das hat der Bund ja eben nicht getan. Es ist ein Konzept der Autonomie, der kulturellen, politischen, sprachlichen Autonomie. Die aber den Staat, in dem sie als Minderheit lebt, akzeptiert, und die sich als Teil der größeren sozialistischen Bewegung versteht. Und das halte ich eigentlich für ein ausgesprochen modernes Konzept.

IF: Ja, es ist faszinierend. Weil es auf den Widerspruch der Moderne zwischen Partikularismus und Universalismus eine bestimmte Antwort bietet. Und was auch so spannend ist, ist das bundistische Konzept von doikayt, die «Daheit», die auch eine Antwort war auf den Zionismus, den sie gesehen haben als eine Art «Dortheit». Und das ist, würde ich sagen, ein zentrales Konzept, das weiterlebt. Der Bund lebt natürlich nicht mehr als Bewegung weiter, aber sein Konzept von doikayt erzählt sehr viel und findet wieder sehr viel Anklang. In einer von Globalisierung geprägten Welt, und eben auch als Antwort auf den modernen heutigen Zionismus. Oder auch als eine bestimmte Antwort auf säkulares jüdisches Leben in der Diaspora.

FW: Ich würde sogar noch weitergehen. Es bietet Anknüpfungspunkte auch für Fragen anderer Migrationsbewegungen oder traditioneller Minderheiten, insofern es eben nicht die Position eines kompletten Assimilationismus oder einer separatistischen Sonderorganisation vertritt. Also ich finde es in der Hinsicht ausgesprochen modern, auch wenn natürlich die Welt, aus der es erwachsen war, untergegangen ist, zerstört wurde. Hauptsächlich von den Nazis, zu einem geringeren Maße aber auch von der stalinschen Sowjetunion; die Führer des Bundes Wiktor Alter und Henryk Ehrlich sind von Stalins Repressionsapparat ermordet worden. Das Konzept des Bundes war eine faszinierende Antwort zwischen dem Assimilationismus der liberalen, der sozialdemokratischen und der kommunistischen Jüdinnen und Juden einerseits und dem Zionismus andererseits, aber natürlich auch der Weltabgewandtheit eines Teils des Schtetl – das waren alles Gegenströmungen.

IF: Ja, es gab noch andere Strömungen, zum Beispiel der Chassidismus. Es gab verschiedene Antworten auf die Moderne, darunter eben auch eine sehr explizite Säkularisierung der jiddischen Kultur. Der Bund aber war eine, die nach wie vor jiddisch war, und nicht wie zum Beispiel andere jüdisch-kommunistische Bewegungen, die gewissermaßen in den jeweiligen nationalen Mehrheitssprachen agierten. Und ein wesentlicher Punkt ist, dass man, sobald man keine staatliche Souveränität anstrebt und als Minderheit mit einer gewissen Autonomie lebt, mit anderen Minderheiten wie auch mit der Mehrheitsgesellschaft Allianzen eingehen muss. Damit ergeben sich ganz spannende Fragen in Bezug auf internationale Solidarität und auch Solidarität der Arbeiter*innenklasse.

FW: Eine Frage noch zum Jiddischen. In Deutschland gibt es fünf anerkannte Minderheitensprachen: Romani oder Romanes, Friesisch, Dänisch, Plattdütsch und Sorbisch. Im Bundestag gibt es einmal im Jahr eine Debatte dazu, interessanterweise lehnt die AfD Minderheitensprachen ab, die meisten, die sie dann dort sprechen, sind Sozialdemokraten. Romanes wird nicht gesprochen, weil wir keinen Abgeordneten haben, der es kann. Es gibt jetzt gelegentlich Forderungen, Jiddisch dazu zu nehmen. Hältst du das für sinnvoll?

IF: Ich halte das für sehr sinnvoll und kenne auch diejenigen, die diese Initiative starten wollen. Ich glaube, es wäre sehr sinnvoll, weil Jiddisch und die jiddische Geschichte in Deutschland wieder mehr als Teil des Kulturerbes gelten würde – nicht, dass ich das deutsch nennen würde, aber es kommt zumindest aus einer gemeinsamen Wurzel oder Region. Es wäre toll, wenn Jiddisch als Minderheitensprache anerkannt werden würde. Man sieht es ja: In Schweden ist Jiddisch eine anerkannte Minderheitensprache, wird gefördert und erlebt eine neue kulturelle Blüte. Ich glaube, das wäre auf jeden Fall sehr vernünftig. Weil Jiddisch nach wie vor leider auch innerhalb jüdischer Kontexte teilweise marginalisiert wird, so auch in Israel auf manchen institutionellen Ebenen. Das ist natürlich einfach auch schade.

FW: Dabei gab es ja im Linkszionismus durchaus zeitweilig die Idee, Jiddisch zur Sprache Israels zu machen, was aber wiederum problematisch gewesen wäre, da man damit die Sephardim und Mizrachim ausgeschlossen hätte.

IF: Ja, genau. Es gibt unter jungen jüdischen Aktivist*innen diesen Diskurs der Aschkennormativität, also dass man die aschkenasische Normativität auch in Frage stellen muss. Zugleich gibt es in vielen institutionalisierten jüdischen Kontexten noch immer eine Art Ablehnung gegenüber dem Jiddischen und insbesondere dem Ostjiddischen. Die subkulturelle Ideologie im Zionismus, der Hebraismus, ist auch sehr deutlich in seiner Ablehnung der Diaspora und des aus seiner Sicht schwachen und verweichlichten Judentums. Das findet Resonanz in vielen aschkenasischen jüdischen Kreisen – ich bin selber aschkenasisch, in meiner Familie, das waren bürgerlich ungarisch sprechende Juden, wurde das Jiddische stark abgelehnt. Aber beispielsweise wird heute in den meisten religiösen Kontexten auf Hebräisch im sephardischen Akzent gebetet, also in der israelischen Aussprache. In Europa war vielerorts aber die Aschkenasi-Aussprache üblich, die hat ja, wie auch das Jiddische, eine andere Betonung und andere Melodieführung. Unterdessen ist diese aschkenasische Aussprache des Hebräischen eigentlich vom Aussterben bedroht. Ich sage es auch als Ethnomusikologin: Das ist ein wichtiges Kulturerbe, auch musikalisch, es ist Teil von bestimmen liturgischen, aber auch populären Gesängen. Es ist ganz wichtig, dieses Kulturerbe zu schützen.

FW: Das ist sehr spannend, und ich sehe sogar eine gewisse Chance, weil das Interesse an dieser Sprach- und Kulturtradition in Polen und in der Westukraine zugenommen hat. Wir haben jetzt viel über den Bund und den Bundismus gesprochen, aber bei den anderen jiddischen Arbeiter*innen- oder sozialistischen Liedern: Welche Strömungen oder welche Inspirationen gibt es da?

IF: Es gibt auf jeden Fall viele anarchistische Lieder, es gibt viele jiddische Lieder aus der frühen Sowjetunion und einfach so grundlinke Lieder, die nicht unbedingt per se zuordenbar sind. Mein Begriff von revolutionären Liedern ist sehr breit. Es gibt die Widerstandslieder natürlich gegen die Nazis, es gibt auch relativ viele sozialistisch-zionistische Lieder, und es gibt viele Arbeiter*innenlieder, die nicht direkt Kampflieder sind, aber schlechte Arbeitsbedingungen schildern, also sehr wohl schon eine Art Klassenbewusstsein zeigen. Da ich mich mit kontinuitätsbildender Musik über das Historische hinaus beschäftige, interessieren mich auch neue Lieder; auch heute werden linke und revolutionäre Lieder geschrieben. Ich denke da zum Beispiel an das Lied «Nayn-Un-Nayntsik» des New Yorker Liedermachers Josh Waletzky zu Occupy Wall Street, es handelt von den 99 Prozent. In der jiddisch-sozialistischen Liedtradition kommen schon viele Strömungen zusammen. Es gibt auch viele feministische Lieder, würde ich sagen, oder auch Lieder, die dann feministisch umgedeutet werden.

FW: Kannst du das an einem Beispiel schildern?

IF: Das Lied «Ale Vayber Megn Shtimen (Alle Weiber dürfen stimmen)» ist eigentlich aus dem jüdischen Cabaret um 1920. Als die Frauen das Wahlrecht bekamen, hat es sich darüber lustig gemacht, das ins Lächerliche gezogen. Ich habe zwei Aufnahmen davon, die spätere wird von einer Frau gesungen, die den Text an alle Stellen «dürfen stimmen» zu «müssen stimmen», also «müssen wählen» geändert hat. Damit hat sie das Lied umgedeutet, es hatte nun auch im Cabaret-Kontext eine andere Funktion und in meiner Interpretation habe ich diesen Impuls weitergeführt. Zur Zeit beschäftige ich mich auch mit jiddischer Poesie des 20. Jahrhunderts, geschrieben von Frauen, eine sehr modernistische Poesie. Die jiddische Literatur war stark männlich besetzt und den Frauen wurde eher dieser Raum eingeräumt. Es gibt davon neben alten Vertonungen aus dieser Zeit viele neue Vertonungen, das würde ich auch in das Revolutionäre hineinnehmen. Und dann gibt es sozialkritische Liebeslieder und sozialkritische Wiegenlieder. Das sind Lieder, die aus mündlicher Überlieferung kommen, sehr stark aus dem Alltag von Frauen, aber gleichwohl auch ein Klassenbewusstsein aufweisen.

FW: Noch eine Anmerkung: Der Anarchist und Maler Rudolf Rocker, der kein Jude war, lernt extra Jiddisch in London zu Beginn des 20. Jahrhunderts wegen der dort großen Ansammlung verarmter proletarisierter Jüdinnen und Juden. Die konnten überwiegend kein Englisch und hatten nur eine Sprache gemeinsam: Jiddisch. In ihnen sieht er das revolutionäre Subjekt, auf dem er seinen Anarchismus aufbauen will.

IF: Genauso war es bei David Edelstadt. Er kam aus Russland, sprach Russisch als Muttersprache und hat dann in New York Jiddisch gelernt, um das jiddischsprachige Proletariat zu mobilisieren. Mit seiner Lyrik war er auch ein wirklicher Volksdichter, schrieb für die jiddisch-anarchistische Zeitung Freie Arbeiter Stimme und hatte das eben auch erst als Erwachsener gelernt. Ich sehe da zwischen Edelstadts Wirken Ende des 19. Jahrhunderts und dem heutigen Phänomen von Menschen wie mir, die aus politischen Gründen Jiddisch lernen, einen ganz starken Bezug.

FW: Dazu noch eine Anekdote. Ian Mikardo, ein britischer Labour-Politiker, der nie eine führende Rolle hatte, aber ein ganz wichtiger Mann der Labour Party im Parlament war, sehr weit links stehend, gleichzeitig überzeugter Zionist und Israel-Unterstützer, erzählt eine Geschichte über die Bedeutung des Jiddischen: Er hatte als Kind kaum Englisch gekonnt, sondern Jiddisch, und erst dann richtig Englisch gelernt. 1954 ist er in Polen mit einer Labour-Delegation und will jüdische Einrichtungen besuchen, hat dann ein Gespräch mit Repräsentanten, es sitzt eine Dolmetscherin dabei und es ist klar, das ist eine Frau des stalinistischen Geheimdienstes. Entsprechend stockend läuft das Gespräch, er fragt kritische Dinge und die jüdischen Vertreter sagen: Nein, alles ist in Ordnung. Er bohrt nach, und irgendwann hört er, wie ein Vertreter der jüdischen Gemeinde seinen Kolleg*innen auf Jiddisch zuraunt, dieser Engländer sei mit seinen kritischen Nachfragen gar nicht so dumm. Er erwidert laut und ebenfalls auf Jiddisch, warum sie denn angenommen hätten, dass er dumm sei. Sie stellen fest: Sie haben eine gemeinsame Sprache. Die Dolmetscherin, die Geheimdienstfrau, kann die nicht, aber sie haben eine Sprache, die verbindet. Und dann erzählen sie natürlich lauter kritische Dinge. Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview wurde am Rande der Veranstaltung «Europa den Räten» von Volksbühne Berlin und RLS geführt, in deren Rahmen Isabel Frey Lieder vorstellte und mit Gertrud Pickhan und Florian Weis diskutierte.

Transkription: Lutz Kirschner